home Österreich Ein gelungenes Casting, ein gutes Orchester und ein verwirrendes Finale

Ein gelungenes Casting, ein gutes Orchester und ein verwirrendes Finale

Mehr als 40 Jahre liegt die Broadway-Premiere dieses Marvin Hamlisch Klassikers zurück. Kaum einer der 26 Darsteller, die in diesem Jahr im Stadttheater Klagenfurt auf der Bühne stehen, war damals, also im Sommer 1975, überhaupt schon geboren. Und doch kann jeder einzelne die Handlung von „A Chorus Line“ nur zu gut nachempfinden. Dieses Musical beschreibt sehr authentisch und ohne jeglichen Glamour wie Musicalrollen am Broadway besetzt wurden und bis heute werden.

Auch heute noch – und das nicht nur am Broadway – entscheidet neben dem fachlichen Können auch die eigene Charakterstärke und Persönlichkeit darüber, ob ein Darsteller eine Rolle bekommt.

„A Chorus Line“ beschreibt diesen Casting Prozess anhand von acht für ein neues Broadway-Musical zu besetzenden Rollen. Das Publikum lernt jeden einzelnen der 16 Finalisten sehr gut kennen. Die finale Entscheidung obliegt – wie im wahren Leben – dem Regisseur.

In diesem Fall ist Regisseur Zach auch gleichzeitig der Choreograph der neuen Show und spornt die Bewerber somit auf allen Ebenen zu Höchstleistungen an.

Gleich zu Beginn findet sich das Publikum in den ersten Gruppenauditions wieder: Zach lässt alle in verschiedenen Kombinationen vortanzen und entscheidet sich dann für 16 Darstellerinnen und Darsteller, die in die nächste Runde kommen. Diese 16 Menschen könnten unterschiedlicher kaum sein: Da ist die erfahrene, aber zu sehr von sich selbst überzeugte Sheila; Cassie möchte die Schatten ihrer früheren Erfolge vertreiben; Kristine und Al möchten es als Paar gemeinsam auf die Bühne schaffen, und Greg seine Homosexualität frei ausleben. Alle Finalisten eint der unbedingte Wunsch und Wille, einen der acht ausgeschriebenen Jobs zu bekommen.

Tänzerisch sind dazu alle imstande. Doch Zach nimmt sich jeden einzeln vor. Die einfache Frage „Erzähle etwas von Dir!“ stellt einige vor eine große Herausforderung. Es kommen verschiedenste Schicksale zum Vorschein: der kleine Bruder, der seiner großen Schwester nacheifert, problematische Kindheiten von Missachtung bis hin zu Misshandlungen, die zerplatzten Träume von Teenagern, Minderwertigkeitskomplexe wegen körperlicher oder ethnischer Gründe – die Liste scheint endlos.

Doch genau darum geht es: Die Teilnehmer sollen sich ihrer Gefühle bewusst werden und lernen, was sie antreibt. Solange sie diese Emotionen vor sich und anderen verstecken, können sie nie wirklich frei auf einer Bühne agieren.

Nachdem jeder einen mehr oder weniger intensiven Seelenstriptease hingelegt hat, tauchen sie wieder im Ensemble unter. Doch jeder hat etwas über sich gelernt und steht nun mit einem anderen Selbstbewusstsein vor dem Publikum.

Die verschiedenen Charaktere wurden in Klagenfurt exzellent gecastet. Baayork Lee, die in Klagenfurt Regie führte, stand selbst in der

Uraufführung am Broadway als Connie auf der Bühne und weiß daher ganz genau, worauf es ankommt. Die Darsteller sind sehr gut besetzt. Allen voran Carsten Lepper als Zach, Ines Hengl-Priker als Sheila, Mario Saccoccio als Greg, Sarah Bowden als Cassie, Bronwyn Tarboton als Maggie und Wei-Ken Liao als Paul.

Es fällt auf, dass das Ensemble sehr international ist. Das mag zu den Rollenprofilen gut passen, wirkt sich aber leider auch stark auf die Phonetik aus. Nicht jeder Darsteller spricht akzentfrei Deutsch. Zudem haben nahezu alle einen tänzerischen Schwerpunkt, weshalb die ohnehin schon wenigen gesungenen Highlights dieser Show leider an Intensität verlieren. Bronwyn Tarboton bildet hier als Maggie eine Ausnahme: Sie wirkt sehr authentisch in ihrem Bestreben, sich von ihrer besten Sete zu zeigen. Das Terzett mit Marina Petkov (Bebe) und Ines Hengl-Priker (Sheila), in dem alle drei ihre gemischten Gefühle gegenüber dem Ballett zum Ausdruck bringen („Im Ballett“), gehört zu den intensivsten Momenten des Abends.

Hingegen kann Jane-Lynn Steinbrunn als Diana Morales leider nicht überzeugen. Wie schrecklich ihre High School-Zeit wirklich war, kann sie mit „Gar nichts“ leider nicht transportieren. Dies liegt aber auch daran, dass das Orchester hier – wie auch in anderen Szenen – zu stark im Vordergrund steht. Sowohl Schlagzeug als auch Bläser des 20-köpfigen Orchesters sind sehr dominant und übertönen häufig alle anderen Akteure.

Diese Ausrede kann allerdings bei „Ich bereu es nie“ (im Original „What I did for love“) nicht mehr gelten. Hier fehlt es Steinbrunn schlichtweg an Gefühl und stimmlicher Fertigkeit (Tempo und Töne entgleiten ihr mehrfach), um diesen emotionalen Song über die Rampe zu bringen.

Mario Saccoccio gibt als Greg ohne Umschweife seine Erfahrungen mit Mädchen zum Besten. An seiner Homosexualität und den für den gläubigen Juden daraus resultierenden Problemen haben diese jedoch nichts geändert. Saccoccio wirkt ebenfalls sehr glaubwürdig und ist ein Sympathieträger in der Truppe.

Im 1985er Film präsentierte Audrey Landers als Val mit „Dance: Ten, Looks: Three“, besser bekannt als „Tits and Ass“, ihre neu hinzugewonnenen Reize. In der deutschsprachigen Fassung verliert dieser Song allein schon durch die holprige Übersetzung (Michael Kunze): „Spitz und rund“ ist nun wahrlich eine sehr prüde Adaption der äußeren Merkmale, um deren Zurschaustellung es in dieser Szene geht. Caroline Ciglenec versucht, dieser Figur Leben einzuhauchen, was ihr leider trotz guter Ausstrahlung und angenehmer Stimme nicht gelingt.

Sarah Bowden, die als ehemals sehr erfolgreiche Solistin (und Ex-Frau von Zach) Cassie auf der Bühne des Stadttheaters Klagenfurt steht, hat eine raumgreifende Bühnenpräsenz. Sie legt viel Gefühl in ihre Interpretation, auch wenn ihr tänzerisch der letzte Schliff fehlt. Die Szene, in der sie Zach sprichwörtlich die Leviten liest, ist sehr intensiv und glaubwürdig. Schlussendlich überzeugt sie nicht nur Zach im Stück, sondern auch das Publikum mit ihrer Darbietung.

Besagter Ex-Mann Zach, der Regisseur und Choreograph des geplanten neuen Boradway-Musicals, kommentiert zu diesem Zeitpunkt das Geschehen seit fast eineinhalb Stunden aus dem Off. Genaugenommen sitzt Carsten Lepper in der letzten Reihe des Parketts, was man, wenn man nicht direkt in seiner Nähe sitzt, nicht mitbekommt, da er wie der Rest des Publikums im Dunkeln sitzt. Hier wäre es sicherlich schöner gewesen, das Regiepult links oder rechts in eine der Logen zu stellen – der Platz wäre vorhanden gewesen. So jedoch erlebt das Publikum den strengen, zielstrebigen Regisseur nur am Beginn des Stücks und zum Ende hin. Lepper nimmt man durchweg ab, dass er nur das Beste will – für die Show, den einzelnen Darsteller und letztlich auch sich selbst. Er hat hohe Ansprüche, an denen er sich am Schluss (beim großen Finale) selbst messen lassen muss. Schauspielerisch liefert Lepper die stärkste Leistung des Ensembles ab.

Dass er im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen keinen ausgeprägten tänzerischen Hintergrund hat, fällt kaum auf. In der finalen Szene („One“) fügt er sich nahtlos in die Reihe der schillernd gewandeten Tänzerinnen und Tänzer ein.

Wei-Ken Liao hat als Paul einen fast achtminütigen Monolog zu absolvieren. Mithilfe von Zach gelingt es Paul, sich zu öffnen und jahrelang aufgestaute, aber gut verdrängte Gefühle brechen sich Bahn: Er hat schon früh eine beachtliche Karriere als Drag Queen gemacht und diese – genauso wie seine Homosexualität – vor seinen Eltern geheim gehalten, bis sie irgendwann durch einen Zufall davon erfahren und mit ihm brechen. Liao wirkt in Statur und Habitus sehr zerbrechlich und kann diese Figur sehr glaubwürdig interpretieren. Das Setting dieser Szene – Paul allein im Spot auf einer ansonsten schwarzen Bühne – steigert die Intensität dieser Szene noch einmal.

Apropos Spot und Licht – das Lichtdesign wirkt in dieser Inszenierung manches Mal etwas wirr. Insbesondere die Spotfahrer verpassen regelmäßig ihre Einsätze, was bei einer so sparsam inszenierten Show, in der es in erster Linie auf die Menschen auf der Bühne ankommt, deutlich auffällt.

Die bekannte Auswahlszene, in der Zach aus den verbliebenen 16 Teilnehmern acht auswählt und nach vorn treten lässt, die aber dann – entgegen ihrer deutlich sichtbaren Erleichterung – die Rollen nicht bekommen haben, gelingt in Klagenfurt sehr gut. Die Emotionen – Freude, Frust, Erleichterung, Trauer – sind in den Gesichtern der Darsteller gut ablesbar.

Das eigentliche Finale von „A Chorus Line“ bildet die Premiere der neuen Broadway-Show. Das Ensemble kommt in schillernden Kostümen auf die Bühne, schwingt Zylinder und Stock und steppt was die Schuhe hergeben. Dann fällt der Vorhang und das Licht im Saal geht an. Kein Darsteller betritt mehr die Bühne. Das Publikum, das zunächst zum Schlussapplaus ansetzte und diesen minutenlang beibehielt, verlässt kopfschüttelnd und irritiert den Saal.

Man mag mich gern als Kulturbanausen bezeichnen, doch am Ende einer mehr als zweistündigen Performance den Künstlern auf der Bühne keinen Dankesapplaus spenden zu dürfen, ist mehr als befremdlich. Selbst wenn Film und Originalshow mit dem Schwarzen Vorhang enden, in Europa – zumindest in Kontinentaleuropa – versteht man dies nicht und mag sich damit auch nicht zufrieden geben.

Die Künstler – Darsteller wie Musiker – haben für die Zuschauer ihr Bestes gegeben und sollten dafür auch mit dem entsprechenden Applaus entlohnt werden. Man kann dem Stadttheater Klagenfurt nur dringend raten, einen Schlussapplaus zu integrieren, um den Beigeschmack, den dieser „Rausschmiss“ verursacht, zu vermeiden.

Michaela Flint

Theater: Stadttheater Klagenfurt
Besuchte Vorstellung: 29. März 2016
Darsteller: Carsten Lepper, Sarah Bowden
Regie: Baayork Lee
Fotos: Stadttheater Klagenfurt