home 2015 Diesmal stiehlt die Stiefmutter allen die Show

Diesmal stiehlt die Stiefmutter allen die Show

Open Air Musicals haben in Marburg Tradition. Jeden Sommer wartet das Stadttheater mit einer neuen spannenden Produktion auf. In diesem Jahr stand eine Rockversion des Grimmschen Märchenklassikers „Aschenputtel“ auf dem Spielplan.

Der König (Ogün Derendeli) und sein wenig entscheidungsfreudiger Sohn (Artur Molin) eröffnen den knapp 90-minütigen Musicalabend mit einer Rock’n’Roll-Nummer: Der König hat keine Lust mehr zu regieren, also muss der Prinz ran – natürlich nicht ohne passende Gattin. Da sich der Prinz nicht festlegen mag, ruft der König kurzerhand ein Casting aus („Prinz sucht Frau“), an dem alle heiratswilligen Mädchen des Landes teilnehmen sollen.

Das lässt sich Ellas Stiefmutter (FRaniska Knetsch) mit ihren sehr eigensinnigen Töchtern Babsy (Leonie Rainer) und Olivia (Ayana Goldstein) nicht zweimal sagen. Ab in die schönsten Kleider, die nervige Stieftochter noch kurz mit Linsen-Sortieren ruhig gestellt und auf geht’s zum Ball.

Natürlich läuft es nicht so wie geplant und Ella (Lene Dax) geling es mit Hilfe wundersamer Zauberwesen und einer putzigen Fee ohne Manieren in einem traumhaft schönen Kleid zum Ball zu kommen.

Es kommt was kommen muss, der Prinz verliebt sich unsterblich, ist aber in seinem Werben um Ella nicht sonderlich talentiert. Die Turmuhr schlägt Mitternacht, Ella läuft nach Haus und verliert ihren goldenen Glasschuh.

Die Suche nach der Trägerin des Schuhs gestaltet sich ziemlich schwierig, da vor allem Ellas Stiefmutter mit allen Mitteln (Astschere oder Motorsäge) versucht, die Füße ihrer Töchter in das so wertvolle Fundstück zu pressen. Auch eine intrigante List der Stiefmutter hilft nicht, da ihr Mann, Ellas Vater, seiner Tochter mit dem zweiten Schuh zur Hilfe kommt und so unzweifelhaft klar macht, dass sie an die Seite des Prinzen gehört.

Matthias Faltz hat sich mit der Handlung von „Cinderella“ auf die wesentlichen Kernelemente beschränkt, die jeder Zuschauer von Klein auf an kennt. Dafür hat er viel Energie in die Bearbeitung der verschiedenen Charaktere gesteckt: Der König ist resolut, hat sein Reich inklusive Untertanen fest in der Hand und begeistert mit seiner Energie und seiner perfekten Rockabilly-Stimme. Der Prinz ist gelangweilt und scheut jede Verantwortung. Er wird erst aktiv als es schon fast zu spät ist. Die böse Stiefmutter ist intrigant, verhätschelt ihre Töchter wo es nur geht, und versucht ihr Umfeld zu ihren Gunsten zu manipulieren. Zudem hat sie die besten Songs abbekommen und lässt alle anderen Charaktere meilenweit hinter sich. Die beiden Stiefschwestern sind typische, oberflächliche und egoistische Teenager, die auch nicht davor zurückschrecken, selbst handgreiflich zu werden. Ella (= Cinderella) ist deutlich selbstbewusster als man es gemeinhin erwartet und lässt sich weder von ihrer Stiefmutter gängeln noch vom Prinzen „im Vorbeigehen“ erobern.

Wichtige Nebencharaktere sind noch der Kanzler und Minister des Königs. Während sich Letzterer (Tobias M. Walter) extrem verschwurbelt mit französischem Akzent und nur in Reimform ausdrückt, ist der Kanzler (Thomas Streibig) bodenständig und problemlösungsorientiert.  Bleibt noch die gute Fee, die sehr phantasievoll gekleidet ist, ziemlich verhuscht wirkt und ihre Manieren zu vergessen haben scheint. Sie rülpst und flucht ganz und gar nicht feengleich.

Die Kostüme (Annie Lenk) des unerwartet großen Ensembles, bestehend aus der Tanzsportgemeinschaft Marburg, der Formation „Lichtblicke“ und „Mondschein“ und dem „Cinderella-Chor“ und Hauptdarstellern, scheinen aus diversen Kostümverleihen zusammengesucht. Die Materialien wirken nicht besonders hochwertig. Schaut man aber genauer hin, lässt sich durchaus ein Konzept erkennen, welches konsequent umgesetzt wurde. Insbesondere jedoch die Kostüme der Fee und ihrer wundersamen Helferlein (Tauben sind es definitiv nicht) sind sehr phantasievoll gestaltet.

Darüber hinaus lebt dieses Stück von den Sprüchen, die das Publikum immer wieder zum Lachen bringen: „In Marburg ist es auch nach vorn raus ruhig!“, „Wir casten eine. Wer ist dieser Karsten?“, „Ische, es geht um Damen,  nicht um Opfer!“, „Mit Mitternacht mein ich nicht so’n Studenten-Mitternacht!“, „Wir sind hier in einem Grimmschen  Hausmärchen, nicht bei CSI Marburg!“.

So herausragend die Band unter der Leitung von Michael Lohmann auch ist, so dünn ist der Grat auf dem man in Marburg gesanglich wandelt. Kanzler, Minister, Ellas Vater und ihre Stiefschwestern singen so wenig überzeugend, dass es einem fast um die großartigen Hits leid tut, die sie interpretieren. Hierzu gehören u. a. „Come on everybody“ oder „Mr. Bombastic“. Auch Ella zählt leider zu der Riege nicht überzeugender Sängerinnen dieser Inszenierung. Ihr „Mad World“ jagt einem Schauer über den Rücken – aber leider nicht der guten Art. Sängerische Defizite werden auch im Duett „I can’t help falling in love with you“ offenbar. Während Ella dem UB 40 Klassiker nicht gewachsen ist, kämpft auch Artur Molin mit dem Stück. Die Songauswahl für den Prinzen liegt Molin grundsätzlich nicht. Man kann in einigen Momenten erahnen, was gesanglich in ihm steckt, erinnert doch die ein oder andere Sequenz an Jesus Christ Superstar. Doch wirklich zeigen kann er dies nur in einer Nummer.

Die Stars des Abends sind der König und die Stiefmutter. Der König vor allem, weil er seine Soli mit viel Schwung und Energie über die Rampe bringt; die Stiefmutter, da sie sowohl als Stiefmutter („Rolling into deep“) als auch als gute Fee („In the middle of the night“) ihre Rockröhre zur Geltung bringen kann. Und damit rückt sie unweigerlich in den Mittelpunkt, denn wann immer Franziska Knetsch zum Mikrofon greift, steigt die Stimmung und der Marburger Marktplatz vibriert zum satten Rock’n’Roll.

Inszenatorisch gibt es ebenfalls Licht und Dunkel: Während die Open Air Bühne gut in die Kulisse des Rathauses eingearbeitet ist (Fred Bielefeldt) und auch die umliegenden Häuser durch Scheinwerfer hinter den Fenstern ins Lichtkonzept mit einbezogen wurden, ist es nicht optimal, Ella den goldenen Schuh hinter der Lichtleiste anprobieren zu lassen. So sieht kein Zuschauer den wesentlichen Moment, in dem sich zeigt, dass der Schuh ihr wirklich passt. Dass keine Applauspausen eingeplant wurden, lässt den Ablauf etwas gehetzt wirken. Da hilft es dann auch wenig , wenn das Publikum am Schluss minutenlang Standing Ovations spendet. Hier wurden Chancen vertan.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Open Air Theater, Marburg
Premiere: 18. Juni 2015
Darsteller: Artur Molin, Lene Dax, Franziska Knetsch
Band / Regie: Michael Lohmann / Matthias Faltz
Fotos: Landestheater Marburg
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