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Diese Show stimmt nachdenklich

Die Handlung von Peter Lunds und Wolfgang Böhmers Jugend-Musical „Leben ohne Chris“ ist schnell erzählt: Zwei Tage nach seinem 18. Geburtstag stirbt Chris bei einem Motorradunfall. In der Zwischenwelt trifft er Erzengel Michael, der ihn seine letzten Tage noch einmal als Zuschauer erleben lässt. Chris muss feststellen, dass er bei weitem nicht so beliebt war, wie er immer angenommen hatte… Ganz im Gegenteil!

Zu Beginn werden teilweise sehr vorwurfsvolle Statements über Chris auf die Leinwand projiziert. Nach und nach kommen Freunde und Familie von Chris auf die Bühne und der Kontext, in dem diese Aussagen getroffen wurden, wird deutlich. Dieses sehr melancholische Intro setzt den Ton für den Abend.

Sascha Littig ist wie schon in früheren Produktionen des T3 der einzige Erwachsene auf der Bühne, doch sein Outfit und seine Heelys lassen ihn herrlich schräg wirken. Es dauert ein wenig, bis das Publikum merkt, dass Littig den Engel Michael darstellt, der Chris nach dessen Tod begleitet.

Anfangs sprechen die Darsteller die erklärenden Regieanweisungen mit. Einerseits ist dies sehr verwirrend, doch gleichzeitig hilft es, die einzelnen Protagonisten in ihrem Handeln und Fühlen noch besser zu verstehen.

Anna (Miriam Wantikow), Chris‘ Freundin, fragt forsch “Was hast Du Dir dabei gedacht?“. Der Aufbau des Songs von einer Ballade zu einem schmissigen Uptempo-Nummer skizziert die Gefühlsachterbahn des Mädchens sehr nachdrücklich.

Chris (Lasse Kuk) wird von Michael an den Tag seines 18. Geburtstags zurückgebracht. Man muss ehrlich sagen, dass sich Chris sehr selbstherrlich, arrogant und rücksichtlos gegenüber seinem Umfeld verhalten hat.

Matze (Janosh Kratz) hat immer zu seinem großen Bruder aufgeschaut („Muss toll sein du zu sein“), doch dieser hat ihn nie ernstgenommen und immer wieder provoziert. Auch wenn Lisa (Pia Naegeli), Matzes Freundin, ihm sehr romantisch ihre Liebe gesteht, gerät auch sie zwischen die Fronten als Chris sie anbaggert und küsst. Kratz spielt und singt den verletzten Bruder mit viel Einfühlungsvermögen. Naegeli darf im Verlauf der Show ein weiteres Mal unter Beweis stellen, dass sie eine wundervolle Stimme hat („Geheime Liebe“).

„Wir waren da“ erinnert im Stil an schönsten Punkrock im Stil von „Die Ärzte“. Die vierköpfige Band unter der Leitung von Daniel Stickan darf in diesem Musical aus dem Vollen schöpfen: Von Ballade über Pop bis Rock ist alles dabei. Die Musiker intonieren Böhmers Melodien mit Schwung und – dort wo es angebracht ist – mit gegebener Zurückhaltung.

Birgit (Juliana Kratz), die sich wie für große Schwestern nicht unüblich, um ihre beiden Brüder Matze und Chris gekümmert hat, schwelgt in Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit („Kleiner Bruder Chris“), doch auch sie steht ihrem Bruder nicht kritiklos gegenüber.

Während zu Beginn die Choreographien (Rhea Gubler) noch etwas unbeholfen wirken, sind sie bei „Kluge Menschen sterben jung“ sehr passend für die Teenager, die hier auf der Bühne stehen. Warum allerdings Mozart, James Dean und Jesus von Lund als besagte kluge Menschen bezeichnet werden, kann man diskutieren…

Bevor Nadja (Hanna Langenbrink), ein weiteres Mädchen, dem Chris den Kopf verdreht hat, ihm in einer Rückblende ihre Zuneigung gesteht („Wenn es wirklich Liebe ist“), erfährt das Publikum, dass Chris und Anna zum Zeitpunkt von Chris‘ Tod gar nicht mehr zusammen waren. Die Art der Trennung (Im Café, in dem Anna jobbt) zeigt einmal mehr wie rücksichtlos Chris agiert hat.

Manu (Morgane Meuthin), die sich immer darum gekümmert hat, dass es allen in der Clique gut geht, und Birgit können es nicht mehr ertragen, dass sich immer alles um Chris dreht. „So geht’s nicht mehr weiter“ ist wieder eine herrlich punkige Nummer, bei der die beiden Stimmen sehr gut harmonieren.

Als Nadja und Lisa in einem Anflug von Verliebtsein beide denken, dass Chris das Graffiti (sehr gelungene Leinwand-Projektion) für sie gesprüht hat, eskaliert die Situation: Matze flippt aus und Lisa bemerkt wie ähnlich sich die Brüder sind „Wenn alles aus dem Ruder läuft“). Die Mädels trösten sich gegenseitig.

Beim Song „Prost“ kommen dann auch Danny (Arthur Huerkamp) und Henne (Arndt Möller) zum Zug: Henne, eigentlich mit Nadja zusammen und der beste Freund von Chris, zweifelt an allem. Doch die Intensität des Songs macht klar, dass die Kids sich in ihre eigenen Welten flüchten.

Anna trifft den Nagel auf den Kopf, wenn sie allen empfiehlt, einfach mal miteinander zu reden (statt immer nur übereinander). Wantikow hat ein ganz spannendes Timbre, wenn sie den Titelsong „Leben ohne Chris“ auf eine berührend schöne Weise intoniert.

Chris sitzt am Ende unter dem Baum (der einzigen Kulisse auf der ansonsten spartanisch offen gestalteten Bühne von Barbara Bloch) und alle zurückgelassenen Freunde geben ihm eine Blume. Ja, Chris‘ Tod hat ein Loch in die Clique gerissen. Doch dieses Loch und die vielen Fragen, die sich die Teenager stellen, helfen bei der Verarbeitung des Geschehenen.

Chris erkennt schließlich, dass er vielen Unrecht getan hat, nicht wirklich ein guter Freund war und wirkt geläutert. Michael fragt ihn „Siehst Du das Licht?“ – und beide sausen auf ihren Heelys (auch Chris trägt jetzt welche) aus dem Saal.

„Leben ohne Chris“ zeigt klar, wie sehr sich Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung unterscheiden können. Es regt mit beinahe jedem Song und jeder Szene zum Nachdenken an und bietet reichlich Gesprächsstoff.

Friedrich von Mansberg hat dieses alles andere als realitätsferne Musical beklemmend klar und sehr authentisch inszeniert. Er darf zurecht stolz sein auf seine junge Truppe. Anna Schwemmer und Daniel Stickan haben gut mit den Nachwuchsdarstellern gearbeitet und ein harmonisches, in Teilen sehr glaubwürdiges musikalisches Gesamtkunstwerk erschaffen.

Einmal mehr trifft Peter Lund mit seinem Buch und den Texten den Nagel auf den Kopf. Flankiert von Wolfgang Böhmers rockig-poppigen Sounds können die Zuschauer einen unterhaltsamen Abend erleben, der noch lange in einem nachhallt.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Junge Bühne T.3, Lüneburg
Premiere: 30. September 2021
Darsteller (inkl. alternierender Besetzungen): Sascha Littig, Lasse Kuk, Anton von Mansberg, Nike Just, Miriam Wantikow, Leo Ehmke, Janosch Kratz, Margarita Georgiadis, Juliana Kratz, Pia Naegeli, Sarah Zürneck, Viktoria Flecke, Morgane Meuthien, Hanna Langenbrink, Belana Pittin, Juri Endsin, Arthur Huerkamp, Arndt Möller, Jonathan Plathe
Regie / Buch: Friedrich von Mansberg / Peter Lund
Fotos: Hans-Jürgen Wege