Die Schreib:maschine

Seit mehr als zehn Jahren bietet die Schreib:maschine Autoren und Komponisten eine offene Bühne, in der sie ihre neuen Musicals vor (zumeist wohlwollendem) Publikum ausprobieren können. Am 28. März 2021 wurde dies in Berlin, Hamburg, Wien und Köln sehr erfolgreiche Format zum ersten Mal live gestreamt und auf diversen Plattformen gezeigt.

Tom van Hasselt führt auch an diesem Abend durch das Programm. Die Ausschnitte aus den Musicals „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“, „Bühnenschwestern“ und „Deine Stimme Zählt“ werden durch Interviews mit den kreativen Köpfen hinter den Shows abgerundet.

Nach einem launigen Opener, in dem van Hasselt über die frustrierende Situation eines Autors und Komponisten lamentiert und die Schreib:maschine als Licht am Ende des Tunnels sieht, geht es direkt los mit „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“.

Kathi Damerow (Buch), Lukas Nimschek (Musik) und Franziska Kuropka (Texte) haben das Stück für „Westand Musical“ geschrieben, eine eigens gegründete (Open Air) Bühne in Braunschweig, die diesen Sommer neben dem „Teufel“ auch „Bürobiester“ von demselben Kreativteam zeigen wird.

Christopher Dederichs, Sarah Matberg, Veit Schäfermeier und Frank Winkels bringen das Publikum schon mit dem ersten Song, „Der Junge mit der Glückshaut“ auf Märchenkurs. Es geht um Hans, dem mit Erreichen seines 14. Lebensjahres ein spannendes Schicksal vorhergesagt wird. Musikalisch poppig und schwungvoll bringen die vier Sängerinnen und Sänger die Prophezeiung in die Online-Welt.

Doch wie immer kommt es anders als man denkt: Hans wird vom König mit einem wichtigen Brief zu dessen Tochter geschickt und trifft im Wald auf die Räuber Müller, Meier, Mottenrock‘. Als Hans schläft stehlen die Räuber den Brief, nur um festzustellen, dass er Hans‘ Todesurteil enthält. Kurzerhand ändern sie den Text und versteigen sich in irrwitzigen Ideen, was der König sich noch alles für Hans wünscht.

In der nächsten Szene wacht Hans in der Suppenküche des Schlosses auf und bringt der Prinzessin wenig einfühlsam bei, dass es mit ihren Kochkünsten nicht weit her ist. Kurzerhand wird die Hühnersuppe mit Knoblauch, Curry und Chili und Kokosmilch verfeinert (öhm, ernsthaft?): „Ich will für immer mit Dir kochen!“ ist eine schöne Popnummer, bei der man vor dem inneren Auge schon begeisterte Kinder im Publikum mitklatschen sieht. Texte wie „süß und trotzdem scharf, was ich nicht denken darf“, sind dann eher was für die Eltern.

Diese Mischung aus kinderkompatibler Handlung, mitreißenden Popsongs und Side Kicks, die auch die Erwachsenen zum Lachen bringen werden, versprechen gute Unterhaltung für die ganze Familie.

Von Familie wollen die beiden Protagonistinnen des zweiten Beitrags nichts wissen. Kira und Luna sind zwar Schwestern, „Bühnenschwestern“, doch sie stehen in permanenter Konkurrenz zueinander und sind auch vor Neid und Missgunst nicht gefeit, obwohl zwischen ihren Wirkungsstätten – Luna ist Chefdramaturgin in Wuppertal, Kira steht auf Musicalbühnen am Broadway – mehr als 6000 km liegen.

Tom van Hasselt bleibt sich treu und hat dieses Zwei-Personen-Stück ganz im Stil der 1920er Jahre komponiert. Dabei ist Charleston ein allgegenwärtiges musikalisches Motiv.

Mit Nini Stadlmann als Luna und Franziska Becker als Kira wurden zwei Darstellerinnen besetzt, die schon mehrfach eindrücklich unter Beweis gestellt haben, dass ihnen exzentrische, abgespannte Charaktere liegen. Entsprechend steht die Zickigkeit und der Egoismus bei beiden Grazien bei „Meine Schwester macht Theater“ im Vordergrund. Allein durch ihre Mimik und Gestik sorgen Stadlmann und Becker für Lacher.

Nach dem Tod der Mutter treffen sich die beiden ungleichen Schwestern und geraten zunächst direkt wieder aneinander. Kira ist völlig fertig und klagt ihrer Therapeuten-App „Shrinky“ ihr Leid. Vom Nervenzusammenbruch in Stakkato bis hin zum balladesken Heulkrampf ist alles dabei!

Luna verzweifelt parallel einmal mehr an ihren treulosen Schauspielern, die nicht zur Probe erschienen sind. „Tod dem alten weißen Mann“ klagt sinnbildlich den übermächtigen, rücksichtlosen Intendanten an. Kira hilft ihrer Schwester bei der Vervollständigung der fehlenden Songtexte. Am Schluss kommt heraus, dass der verhasste alte, weiße Mann der eigene Vater ist.

„Bühnenschwestern“ eröffnet beiden Darstellerinnen viele Gelegenheiten, unterschiedlichste Facetten von sich zu zeigen. Diese kurzweilige Geschichte macht sichtlich nicht nur dem Publikum Spaß!

Den Abend komplettiert „Eine Stimme für Deutschland“, das neueste Stück von Peter Lund (Buch & Texte) und Thomas Zaufke (Musik). Es handelt von Alina Deutschmann (Neue Rechte) und Regula Hartmann-Hagenbeck (Grüne), die beide um das Amt der Bürgermeisterin konkurrieren.

Peter Lunds UdK-Studierende Veronika de Vries, Mascha Volmershausen und Joël Zupan zeigen in kurzen Ausschnitten die extremen Gefühlswelten der beiden Politikerinnen sowie die Härte des multimedialen Wahlkampfs, in dem scheinbar alle Mittel erlaubt sind.

De Vries macht als Regula Hartmann-Hagenbeck klar, dass sie mit dem Wahlkampf überfordert ist: Einerseits möchte sie unbedingt allen beweisen, dass sie ins Berliner Rathaus einziehen wird, andererseits hasst sie, was sie tut. Sie dreht innerlich durch, bittet ihre Wähler aber weiterhin und unermüdlich „grün“ zu wählen.

Dem gegenüber steht Alina Deutschmann (Joël Zupan), die die Medien und auch ihre Tochter Gerlind (Mascha Volmershausen) vollends im Griff hat. Jede ihrer Lügen wird noch weiter aufgebauscht („Ich kann kochen“): „Hass ist unser Zweck“ ist ein temporeiches Duett, dass nicht nur textlich für die Darsteller, sondern auch inhaltlich für die Zuschauer anspruchsvoll ist.

Hartmann-Hagenbecks Tochter möchte auch, dass ihre Mama die Wahl gewinnt, doch nicht um jeden Preis (so wie Gerlind, die in der Schule alle gegen sich aufgebracht hat und stolz darauf ist): „Trotzdem tut es weh, wenn die eigene Mutter lügt.“ De Vries bedauert die vielen falschen Entscheidungen, die sie aus politischem Ehrgeiz getroffen hat: Sie hat alles falsch gemacht und auch ihren Mann damit verjagt. Zupan kommt als Hartmann-Hagenbecks Mann zu diesem Duett dazu. Auch hier muss man genau zuhören, damit man die Tiefgründigkeit des Gesagten mitbekommt.

Peter Lund möchte sich über alles lustig machen dürfen, sagt er im folgenden Interview. „Eine Stimme für Deutschland“ ist überspitzt und macht vor nichts und niemandem Halt.

Das verspricht Unterhaltung, Wortwitz und Stoff für Diskussionen. Wenn alles gut geht, wird das Stück ab 5. Juni 2021 in der Neuköllner Oper gezeigt.

Die Schreib:maschine hat einmal mehr die ganze Bandbreite des zurzeit arg gebeutelten Genres Musical gezeigt. Umso schöner, dass durch den Live-Stream die Neugierde eines noch viel größeren Publikums geweckt werden konnte.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Neuköllner Oper
Premiere: 28. März 2021
Darsteller: Tom van Hasselt, Christopher Dederichs, Sarah Matberg, Veit Schäfermeier und Frank Winkels,Nini Stadlmann, Franziska Becker,Veronika de Vries, Mascha Volmershausen, Joël Zupan