home 2016 Die Energie dieses Ensembles ist ansteckend!

Die Energie dieses Ensembles ist ansteckend!

Fast schon majestätisch thront die alte Clingenburg auf ihrem Weinberg am romantisch verschlungenen Main. Schon seit 1994 bildet sie die perfekte Kulisse für Open Air Theater. Auch Musicals haben dort seit vielen Sommern ihren festen Platz. In diesem Jahr wollte ein Anwohnerpaar dem Verein, der die Festspiele veranstaltet, die lautstarke Beschallung untersagen. Musik und Musical sind eben doch Geschmackssache. Doch anstatt klein beizugeben, einigte man sich: Die Stücke beginnen eine halbe Stunde früher, die Dezibelzahl wurde heruntergeregelt und um Schlag 22 Uhr verklingt der letzte Ton in der Burgruine. Damit ist an dieser Front erst einmal Ruhe eingekehrt, doch für die Kreativen bedeutet dies große Umstellungen: „Hair“ wird ohne Pause durchgespielt, d. h. Peter Rein, der Regisseur, und sein Ensemble mussten einige Passagen anpassen – nicht nur akustisch, sondern auch inhaltlich, damit die fehlende dramaturgische Pause nicht so arg ins Gewicht fällt.

clingenburg-festspiele-klingenberg-108_v-img__1__1__xl_-fc0f2c4a90a5ebfa79f56bc1c9c6a86c876e2a3cDas 22-köpfige Ensemble macht die gedrosselten Melodien von Galt MacDermot mit unbändiger Spielfreude wett. Sie spielen sich fröhlich durch die tragisch endende Freundschaft von Berger und Claude, haben viel Spaß an den abwechslungsreichen Flower-Power-Songs und nehmen sich selbst nicht allzu ernst.

Regieseitig gibt es einige fragwürdige Entscheidungen, bspw. warum zu „Sodomy“, einem Song der ganz deutlich die Masturbation thematisiert, eine Massenorgie stattfindet, die dann wenig später während eines kollektiven LSD-Trips des Tribes in paarweisem Gruppensex endet. „Electric Blues“ und „Hare Krishna“ passen inszenatorisch so gar nicht zum Gesamtbild und auch die durchaus lustige Badeszene im Burgeigenen Brunnen gerät deutlich zu lang.

Besonders gelungen ist die Geburtstagsparty von Sheila, die Berger und sein Tribe mit allen Mitteln der Kunst aufmischen. Beklemmend gut sind auch die Szenen von Claude beim Militär sowie Bergers unfreiwillige Einberufung. Immer wieder urkomisch sind die Autofahrten, bei denen abwechselnd Berger, Sheila oder Steve die Pkw-Geräusche mittels Handmikro improvisieren. Steves gespielter Worpantrieb sorgt für viele Lacher im Publikum.

Überhaupt sind es die vielen kleinen Einzelaktionen, die diese Aufführung so charmant machen: Marcus Abdel-Messih überzeugt als überbesorgter Steve genauso wie als splitterfasernackter Woodrow Sheldon, der bei der Musterung augenzwinkernd seine rot lackierten Fußnägel preisgibt. Steves Schwester Sheila, die einerseits das brave Töchterchen sein will, sich aber andererseits stark von Berger animalischer Art angezogen fühlt, wird von Julia Hell mit großartiger Mimik und einem gehörigen Schuss Ironie gespielt.

Als charismatischer Anführer des Tribes erlebt das Publikum einen blendend aufgelegten Lars Schmidt, der sich mit seinen intensiven, teils exzentrischen Songinterpretationen für die Titelrolle in „Jesus Christ Superstar“ empfiehlt. Schmidt reißt nicht nur das Ensemble mit, sondern gewinnt auch das Publikum im Handumdrehen. Als schüchterner Claude, der seine ersten Erfahrungen mit Drogen und der freien Liebe sichtlich genießt, steht Marcel Kaiser auf der Bühne im Burghof. Er transportiert die verwirrenden Gefühle zwischen Pflichtbewusstsein und Genusssucht sehr gut und gibt einen starken Counterpart zu Berger ab.

David Krohn interpretiert Woof fast schon tuntig, als Diva und immer vorbereiteter Dealer, aber mit dem Herzen am rechten Fleck. Er überragt die meisten seiner Kollegen und hat nicht zuletzt auch deshalb eine auffällige Bühnenpräsenz. Schade ist, dass dieser Inszenierung der Soul ein wenig abgeht, was vor allem daran liegt, dass die Soulsängerinnen (Georgia Reh, Victoria Enste und Mariama Ebel) ihr Können – vielleicht auch wegen der gebremsten Tonanlage – nicht unter Beweis stellen können. Dafür entschädigt Catherin Joos als Jeannie mit ihrer glockenklaren Stimme in so manchen Song.

clingenburg-festspiele-klingenberg-116_v-img__16__9__xl_-d31c35f8186ebeb80b0cd843a7c267a0e0c81647„Hair“ lebt auch von den Farben und dem Tanz. Ersteres wurde auf der Clingenburg von Christian Baumgärtel (Bühne) und Isa Mehnert (Kostüme) wunderbar umgesetzt: Große bunte Blumen sowie verstörend gemusterte und farblich herrlich im 70er Jahre Stil kombinierte Kostüme sorgen für ein perfektes optisches Bild. Die Choreographien von Ronny Bartsch wirken hingegen vielfach belanglos. Das große Ensemble ist so gut wie nie synchron und viele scheinen mit der Schrittfolge oder dem Tempo überfordert. Hier wäre weniger sicherlich mehr gewesen.

Doch am Ende fällt auch dies kaum ins Gewicht, da die Darsteller genau zwei Stunden lang ein Gute-Laune-Feuerwerk abschießen, ohne jedoch die Botschaft des Stücks aus den Augen zu verlieren. Auch in heutigen Zeiten sind mahnende Worte gegen sinnlose Kriegseinsätze brandaktuell.

Man hätte das Stück sicherlich etwas frischer und straffer umsetzen können, denn „Hair“ hat einige Längen. Doch die Darsteller wurden gut gecastet und sie können ihre Charaktere sehr glaubhaft verkörpern. Die Energie des Ensembles ist so mitreißend, dass das Publikum lautstark nach einer Zugabe verlangt. Doch diese muss aus rechtlichen Gründen ausbleiben.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Open Air Bühne auf der Clingenburg, Klingenberg
Besuchte Vorstellung: 4. Juli 2016
Darsteller:  David Krohn, Marcel Kaiser, Lars Schmidt, Catherin Joos
Musik / Regie:  Galt MacDermot / Peter Rein
Fotos:  Clingenburg Festspiele e.V.
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