home 2015 Der Star dieser West Side Story ist die Bühne

Der Star dieser West Side Story ist die Bühne

Es ist schon echt groß, was die Oper Leipzig für die Inszenierung der West Side Story auffährt: Nicht weniger als 60 Tänzer und Sänger stehen auf der Bühne, wodurch diese bis auf den letzten Zentimeter genutzt und eine selten gesehene Tiefe erzeugt wird. Hinzu kommen noch einige wenige Großkulissen, unauffällige Kostüme und fertig ist die Grundausstattung für einen der meist gespielten Musicalklassiker weltweit.

Den instrumentalen Part bestreitet das auch über Leipzigs Stadtgrenzen hinaus bekannte Gewandhausorchester unter der gesamtmusikalischen Leitung von Ulf Schirmer. Für die Hauptrollen hat man erfahrene Musicaldarsteller als Verstärkung engagiert: Myrthes Monteiro ist Maria, Carsten Lepper ihr Tony und Andreas Wolfram gibt den Jet-Anführer Riff. Zu den Jets zählen u. a. Tom Schimon als Action, Oliver Aagaard-Williams als A-Rab und Andreas Langsch als Baby John. Und auch Cusch Jung alias Shrank ist nun wahrlich kein Unbekannter in der deutschsprachigen Musicalszene.

Schon bei der Ouvertüre zeigt sich die Zwiespältigkeit, die diesen Theaterabend bestimmen soll. Positiv wirkt das Zusammenspiel von Bühne und Tanz: Das Ballett der Oper Leipzig tanzt unter vermeintlich tonnenschweren Stahlträgern – da bekommt das Wort Schwebebalken eine ganz neue Bedeutung! Dass die durchaus energiegeladenen Choreographien jedoch recht häufig unsauber getanzt werden, überrascht. Genauso unerfreulich ist die dumpfe Akustik, mit der das Gewandhausorchester im Saal ankommt. Die Musiker sitzen in einem offenen Orchestergraben unter der Bühne; keine unübliche Platzierung für ein Orchester. Und doch kommen die schwungvollen Rhythmen von Leonard Bernstein nur wie durch Watte gepresst an. Dies wird im Laufe des Abends sogar eher noch schlimmer. Es geht so weit, dass man den Eindruck gewinnt, dass das Orchester und die Sänger nicht gemeinsam spielen.

Vielleicht liegt es auch daran, dass die Lautsprecherboxen an der Bühnenvorderkante mit Kulissen verdeckt sind, dass man im Zuschauerraum so wenig Klangvolles hört. Auf jeden Fall bleibt es ärgerlich. Und da erscheint der Einbau einer neuen Tonanlage wenige Tage vor der Premiere auch mehr wie eine Verzweiflungstat. Denn wenn es der Tontechniker nicht schafft, die Mikros derjenigen Darsteller runterzufahren, die gerade tanzen, ist das schon schade. Denn wer möchte einen Andreas Wolfram nach seinem Kampf als Riff mit Bernardo schon lautstark schnaufen hören? Dass die raumgreifenden Choreographien, die er parallel zu seinem Gesang zu bewältigen hat, anstrengend sind, sieht der Zuschauer ohnehin.

Auch diese „West Side Story“ wird mit englischen Songtexten und deutschen Dialogen vorgetragen. Man kann darüber streiten, ob so etwas heute noch zeitgemäß ist, aber zumindest an diesem Premierenabend kann das Publikum dem Geschehen problemlos folgen. Für den ein oder anderen Darsteller sind allerdings die englischen Songtexte scheinbar eine Hürde, hört man doch so einige stark akzentuierte Ausdrücke.

Allerdings stehen bei dieser Inszenierung weder die Musiker noch die Sänger im Mittelpunkt. Wenn der Direktor des Leipziger Balletts, Mario Schröder, ein Musical inszeniert, scheint es nur allzu verständlich, dass der Tanz im Fokus steht. Also werden hier nahezu alle Szenen mit ausdrucksstarken Choreographien versehen, die Kämpfe der verfeindeten Jets und Sharks trotzen vor Energie. Manch einer ist geneigt, eine Ähnlichkeit zu Pina Bauschs unvergleichlichem Stil zu erkennen. Dafür jedoch sind viele Sequenzen zu wenig synchron oder schlichtweg unsauber getanzt. Nichtsdestoweniger überzeugt das Leipziger Opernballett mit Modern Dance und Jazz insbesondere im „Rumble“ kurz vor Ende des Stücks, in dem die verzweifelten Jets sich gegenseitig ihr Leid klagen.

Aus dem ansonsten sehr düsteren, getragenen Rahmen der Inszenierung bricht naturgemäß „I like to be in America“, gesungen von Anita und ihren puertoricanischen Landsleuten, aus. In Leipzig entspannt sich am rückwärtigen Ende der Bühne eine überdimensionale US-Flagge, vor der – angeführt von zwei Clowns, die an eine Mischung aus Pennywise und Ronald McDonald erinnern – Superman, Super Mario, Captain America, Krümelmonster, Elmo und jeweils zweimal Minnie und Mickey Mouse tanzen. Ist es das, was Amerika ausmacht? Comic-Helden und Stars aus Kinder-Sendungen? So ganz erschließt sich die Botschaft dieser Szene leider nicht.

Ebenfalls etwas schwierig, oder vielleicht auch nur zu viel des Guten, ist die Spiegelung des Gesangspaares bei „Tonight“ durch ein Tanzpaar. Letzteres lenkt von Maria und Tony ab und zerstört die aufkeimenden Gefühle der beiden. Bei Tony‘s weltbekanntem Solo „Maria“ passt hingegen alles zusammen: Die puristische Bühne, das sparsame Licht und im Zentrum ein Carsten Lepper, der mit aller Inbrunst seine große Liebe anschmachtet. Seine klare Stimme und perfekt intonierte Emotionen sorgen für Gänsehaut beim Zuschauer.

Wenden wir uns etwas durchweg Positivem zu: Die Arbeit, die Andreas Auerbach und Paul Zoller mit der Bühne und den Videoprojektionen geleistet haben, ist beachtlich. Die Bühne ist kalt, grau und nichts lenkt von den Agierenden ab. Die wenigen Kulissen (Straßenlaternen, Stahlträger) werden sehr effektvoll und sparsam eingesetzt. Die Projektionen im Hintergrund, bspw. die nicht endende wollende Straße oder die Brooklyn Bridge aus einer Nebenstraße betrachtet, schaffen raumgreifende Szenenbilder. Dieses Bühnenbild ist durchdacht und funktioniert einwandfrei.

Die musikalischen Gäste, die die Oper Leipzig für dieses Stück engagiert hat, überzeugen in ihren Rollen, auch wenn man sich fragt, ob Riff (Wolfram) und Tony (Lepper) im Vergleich zum restlichen Ensemble nicht etwas zu alt sind. Nichtsdestoweniger spielen beide mitreißend. Wolfram zeigt, dass Riff nicht nur der engstirnige Bandenchef ist, sondern durchaus eine gefühlvolle Seite hat. Carsten Lepper gibt einen jugendlichen Tony voller Energie und mit fast schon sichtbaren Schmetterlingen im Bauch. Einzig in der Szene, in der Tony von Marias Tod erfährt, will er etwas zu viel. Gesanglich werden beide den Rollenprofilen gerecht. Wolfram hat als Riff ja schon Erfahrung sammeln dürfen und fühlt sich sichtbar wohl mit dem „Material“. Leppers Part hingegen gehört zu den Anspruchsvollsten im Musicalbusiness. Doch Lepper ist ein Vollprofi und lässt sich nicht so leicht einschüchtern. Sein Tony ist voller sanfter Gefühle und klingt frisch und ehrlich.

Als Maria wurde Myrthes Monteiro (ab Dezember in Hamburg als „Aladdins“ Jasmin zu sehen) gecastet. Zusammen mit Erdmuthe Kriener (Anita) gehört sie zu den überzeugendsten Darstellern auf der Bühne. Monteiro hat einen lieblichen Charme, der Maria gut zu Gesicht steht. Man nimmt ihr die Verliebtheit und den Glauben an das Gute im Menschen ab. Sie singt wunderschön klar und sauber, manchmal etwas kindlich. Aber das passt perfekt zur Rolle. Wenn sie, wahnsinnig vor Schmerz, nach Chinos Waffe greift, um ihn zu erschießen, zeigt sie eine Aggressivität, die man Maria so nicht zugeschrieben hätte.

Kriener gelingt es, geballte Latino-Emotionen über die Rampe zu bringen. Obwohl sie so westeuropäisch aussieht, wie es nur geht, ist sie leidenschaftlich, mütterlich zu Maria und voll starker Gefühle für ihren Nardo.

Was leider komplett verpufft, ist „Somewhere“. Anna Preckeler hockt im Engelskostüm auf dem Stahlträger, der während Bernardos Trauerfeier über den Köpfen der Trauergemeinde schaukelt. Leider gelingt es – sicherlich auch bedingt durch die Tontechnik – nicht, diesen weltbekannten Hit angemessen zu präsentieren.

Auch beim Finale wurde Potential verschenkt: Tony stirbt in Marias Armen und der Vorhang fällt. Warum Schröder auf das gemeinschaftliche Heraustragen von Tony durch die Jets und Sharks verzichtet, ist unklar. Doch gerade diese Szene macht den Wandel im Denken der Banden sichtbar.

Nicht vergessen darf man den stimmgewaltigen Opernchor, der aus dem Off die Sänger auf der Bühne unterstützt. Erst beim Schlussapplaus bekommt das Publikum diesen großen Chor zu Gesicht und zollt ihm anhaltenden Applaus.

Was bleibt von der Leipziger „West Side Story“? Ein Bühnenbild, das nachhaltig beeindruckt, ein nicht minder beachtliches Tanzensemble, das allein schon durch seine schiere Masse Maßstäbe setzt, die erneute Klarheit, dass Musicalhauptrollen nicht aus dem Hausensemble besetzt werden können und man gut beraten ist, hierfür Gäste zu engagieren und leider einmal mehr die Erkenntnis, dass ein defekte Tonanlage oder eine schlechte Abmischung von Orchester und Gesang ein ganzes Stück ruinieren kann.

Michaela Flint

Theater: Oper Leipzig
Premiere: 20. Juni 2015
Darsteller: Myrthes Monteiro, Carsten Lepper, Erdmuthe Kriener, Andreas Wolfram, Cusch Jung
Musik / Regie: Leonard Bernstein / Mario Schröder
Fotos: Ida Zenna / Oper Leipzig
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