home 2022 Der gelungene 1. Akt gerät schnell in Vergessenheit

Der gelungene 1. Akt gerät schnell in Vergessenheit

Am auffälligsten an der Lüneburger „Jesus Christ Superstar“-Inszenierung von Friedrich von Mansberg ist die Länge von nur 100 Minuten. Besonders im 2. Akt fallen die fehlenden Minuten spürbar ins Gewicht.

Barbara Bloch hat für diese moderne Fassung eine sehr schlichte Bühne entworfen: eine Wellblech-Rückwand, Podeste in U-Form, zwei vielseitig eingesetzte Käfigelemente. Im zweiten Akt wird das Bühnenbild von einem übergroßen Dornenkranz dominiert, der Judas auch als Plattform für seine „Superstar“-Performance dient. Das Ensemble wurde von Benjamin Burgunder passend in zeitgenössische Kleidung gesteckt. Der Tatsache, dass einige Apostel Fischer waren, wird hier deutlich sichtbar Rechnung getragen (Gummistiefel, Fischerhemden, Wathosen sind allgegenwärtig). Während der 1. Akt in gedeckten, blau-grauen Farbtönen daherkommt, wird’s im 2. Akt bunt: in knappen goldenen Kostümen gewandete Tänzerinnen und Tänzer, König Herodes Gefolge in bordeaux-violettem Tanzdress. Jesus erinnert in seinem goldenen Onesie an einen glitzernden Teletubby, Annas sieht Neo aus „Matrix“ zum Verwechseln ähnlich und die vier Schergen von Kaiaphas könnten direkt einer neuen „Star Wars“ Serie entstiegen sein. Ein sehr kreativer erster Einsatz für Burgunder in Lüneburg.

Die Choreografien stammen von Ballettdirektor Olaf Schmidt. Man kann seine Idee dahinter sehr gut erkennen, doch leider gelingt es dem Tanz-Ensemble nicht, die Schrittfolgen aus Jazz und Contemporary frei, locker, akzentuiert und synchron auf die Bretter zu bringen. Viel zu oft tanzt jemand nicht nur sprichwörtlich aus der Reihe, ist zu spät dran oder einfach so konzentriert, dass die Schrittfolgen steif und hölzern wirken.

 

Haus- und Extrachor sowie die Statisterie sorgen dafür, dass „Jesus Christ Superstar“ gut klingt. Hier wurde exzellent an Harmonien und Einsätzen gearbeitet. Zudem wirkt die Bühne des Großen Hauses immer gut gefüllt, was vielen Szenen sehr zugute kommt. Leider wurden fast alle Songs gekürzt, teilweise nur angeteasert und die vielen ruhigen, intensiven Momente durch sofortige Vorhänge und Umbauten abgebrochen. Es fällt auf, dass der schwarze Vorhang sehr oft fällt, teilweise nicht einmal mit entsprechender Musik zur Überbrückung des Umbaus. Dies stört den Fluss der Handlung mehrfach nachdrücklich.

Jesus‘ Anhänger zeigen ihre Gefolgschaft durch über dem Kopf gekreuzte Arme. Diese Geste ging im Sommer 2021 durch die Presse als die US-Kugelstoßerin Raven Saunders damit während der Siegerehrung bei den Olympischen Spielen gegen Unterdrückung protestierte. Ein politischer Ausdruck, den man im Kontext von Jesus Leben und Wirken durchaus hinterfragen kann.

 

Wie in Lüneburg üblich wurden für die große Musicalpremiere der Spielzeit wieder Gäste engagiert. So überzeugt Timothy Roller als Jesus vor allem mit seiner großen stimmlichen Bandbreite und gefühlvollem Spiel. Maria Magdalenas emotionale Achterbahnfahrt wird von Amani Robinson mit Soul und einer greifbaren Verletzlichkeit interpretiert. Als Judas gelingt es Ruud van Overdijk das Publikum von seiner verzweifelten Situation zu überzeugen. Seine Rockstimme, die er bis in die höchsten Höhen treibt, passt perfekt zu diesem anspruchsvollen Part. Calum Melville (ebenfalls als Gast am Haus) setzt als Simon im ersten Akt einen beeindruckenden Akzent.

Aus dem Hausensemble wurden Pilatus (Ulrich Kratz), Herodes (Karl Schneider), Annas (Andrea Marchetti) und Kaiaphas (Yinghao Liu) besetzt. Liu kämpft sichtlich mit den schnellen englischen Texten, obwohl er dem Part stimmlich durchaus gewachsen ist, wohingegen Marchetti brillant einschüchternd agiert und singt. Kratz zeigt im ersten Akt eine sehr gefühlvolle Seite von Pilatus. Leider stößt auch er im zweiten Akt an seine Grenzen, wenn es darum geht, englische Texte in hohem Tempo und mit dem richtigen Ausdruck über die Rampe zu bringen. Seine Darstellung von Pilatus‘ Verzweiflung und Getriebenheit ist jedoch über jeden Zweifel erhaben. Schneider wirkt ein wenig wie ein alternder Elvis, doch die Zuschauer lieben ihn und sein König Herodes ist ein aufmunternder Farbtupfer im 2. Akt.

Von Mansberg ist es im ersten Akt ganz hervorragend gelungen, die Gefühlswelten der Protagonisten auszuarbeiten. In der Pause hört man folglich viele begeisterte Zuschauerstimmen im Foyer. Leider ist es ihm jedoch nicht gelungen, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten und so bleibt der zweite Akt deutlich hinter dem ersten zurück. Er wirkt zusammengestückelt, hetzt rastlos von Highlight zu Highlight und erlaubt es weder den Darstellern noch dem Publikum die Handlung gänzlich aufzunehmen. Das ist sehr bedauerlich und man verlässt das Theater mit einem faden Beigeschmack. Die Zutaten waren exquisit, das Menü konnte leider nur mit der Vorspeise überzeugen.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Theater Lüneburg
Premiere: 12. November 2022
Darsteller: Timothy Roller, Amani Robinson, Ruud van Overdijk, Ulrich Kratz, Karl Schneider, Andrea Marchetti, Yinghao Liu
Regie: Friedrich von Mansberg
Fotos: Andreas Tamme