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Der Bodensee in Flammen

Der Bodensee als Bühne für Theaterstücke, Musicals und Opern? Eine sehr originelle aber zugleich schwer umsetzbare Idee – doch bei den Bregenzer Festspielen wird dieses Konzept seit 58 Jahren sehr erfolgreich präsentiert.

In diesem Jahr stand neben der Oper »Das schlaue Füchslein« mit der »West Side Story« ein bewährtes Musical aus der Feder von Leonard Bernstein und Stephen Sondheim auf dem Programm. Als am 19. August 2003 das Ende der diesjährigen Festspielzeit mit einigen Über-raschungen gefeiert wurde, hatten in den vorangegangenen vier Wochen bereits mehr als 200.000 Besucher das Stück besucht. Auch den Gästen der Derniere verschlug es zunächst nahezu den Atem als sie das Oper Air Theater betraten: 7.000 Sitzplätze reihen sich wie in einem Amphi-theater in einem Halbrund um die viel zu große Bühne und die New Yorker Häuser-Kulissen, die im schwindenden Tageslicht sehr beein-druckend waren. Obwohl Designer George Tsypin die Kulissen bereits mehr als sechs Monate vor dem 11. September 2001 fertig gestellt hatte, erinnert das markanteste Element – ein 36 Meter hoher Wolkenkratzer aus Glas und Stahl – doch sehr an Ground Zero nach den Terroranschlägen. Die sich in den Glaselementen brechende Abendsonne löste bei dem einen oder anderen sicherlich beklemmende Gefühle aus. Doch der Designer betont ausdrücklich, dass er mit seinem Bühnenbild „lediglich“ die Trostlosigkeit der New Yorker Häuserschluchten darstellen wollte, was ihm auf eindrucksvolle Weise gelingt. Die szenisch dargestellten Gegensätze zwischen Arm und Reich, Weißen und Hispano-Amerikanern, Moderne und Tradition passen hervorragend zur Story.

Glas und Stahl sind die bestimmenden Materialien auf der Bühne; so besteht der Bühnenboden aus rutschfest beschichteten Glasbausteinen unter denen man den See erkennen kann. In der Verlängerung des Bodens erhebt sich in großen Stahl-Wellen der alles überragende Wolkenkratzer. Mit einer Neigung von 60° und einem Gesamtgewicht von 140 Tonnen, die auf 18 Stahl- und Holzpiloten lasten, stellt er das kalte, rationale der heutigen Gesellschaft dar.

Den Gegensatz hierzu bildet das Brick-House, das als Kulisse für das Leben der Puertoricaner dient. Das in alle Richtungen drehbare Haus wird auf Schienen ins Bühnengeschehen gefahren und auf mehreren Ebenen bespielt. Je nachdem, welche Seite dem Publikum zugewandt ist, findet man sich in der Schneiderei von Anita, in Marias Schlafzimmer oder auf dem Hinterhof wieder. Im Erdgeschoss befindet sich zudem der Ballsaal, in dem sich Tony und Maria das erste Mal begegnen.

Das Lichtdesign von James F. Ingalls sorgt während der Show für immer neue unerwartete Effekte: aggressiv-grell bei den Kämpfen der verfeindeten Sharks und Jets, romantisch-weich bei den Duetten von Tony und Maria. Und alles vor der eindrucksvoll ins Licht gerückten Großstadtkulisse New Yorks.

Leonard Bernstein Adaption von William Shakespeares „Romeo und Julia“ wurde in Bregenz von Francesca Zambello inszeniert, die neben Opern und Shows auch Musicals wie beispielsweise »Napoleon« im Londoner West End in Szene setzte. Für die Orchestrierung, die bei diesen Bühnen- und Theaterausmaßen gewaltig sein musste, sorgten die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Wayne

Marshall und David Charles Abell, der u. a. das Konzert zum 10. Geburtstag von »Les Misérables« in der Royal Albert Hall dirigierte.

Richard Wherlock übernahm für diese Inszenierung die schwere Aufgabe der Choreographie. Die Herausforderung bestand darin rund 60 Ensemble-Mitglieder, mehr als 80 Statisten und vier Schauspieler („die Erwachsenen“) tänzerisch unter einen Hut zu bringen. Er hat diese Aufgabe gut gelöst, denn bühnenfüllend arrangierte Tanzszenen und die hohe tänzerische Klasse des Ensembles sorgten für so manchen Zwischenapplaus. Dennoch verpufften viele choreographische Details, da die Zuschauer bei einer solchen Vielzahl an Darstellern unter dem Einfluss des berauschenden Gesamtbildes nur kleine Ausschnitte erfassen konnten.

Farbenfrohe und sehr abwechslungsreiche Kostüme von Marie Jeanne Lecca machen die Produktion lebendig, jedoch wird es durch diese Vielfalt nicht eben einfacher dem Geschehen zu folgen. Zeitweilig war es kaum möglich zu orten, welcher der Darsteller gerade sang, da die übergroße Bühne mit einem Blick nicht zu erfassen ist.

Mancher Leser wird sich fragen, warum an dieser Stelle soviel über die Kulissen und nichts über die Inszenierung an sich und die Darsteller geschrieben wird.

Um es auf den Punkt zu bringen: Der eigentliche – und ganz und gar nicht heimliche – Hauptdarsteller der Bregenzer Seebühnenproduktion sind die Kulissen. Trotz seiner Größe, der choreographischen und kostümseitig gesetzten Details schafft es das Ensemble nicht, sich gegen die Übermacht von Wolkenkratzer und Brick-House zu behaupten. Die Darsteller zeigten zwar eine gesanglich solide Leistung. Von den Hauptdarstellern stachen jedoch nur Maria (Katja Reichert) und Anita (Sibylle Wolf) ganz besonders hervor, bei den Männern überzeugt Andreas Wolfram als Marias großer Bruder Bernardo vor allem tänzerisch. Viele andere – wie Alexander Franzen als Riff oder Christian Baumgärtel als Tony blieben blass, was zu einem großen Teil sicherlich auch auf die eher mittelmäßige Akustik zurückzuführen war.

Obgleich viele Darstellerinnen und Darsteller der »West Side Story« bereits Musical-Erfahrung haben, sind es jedoch nicht sie, die sich dauerhaft in das Gedächtnis der Besucher eingebrannt haben, sondern die einzigartige Kulissen von George Tsypin. Ob dies das Ziel einer Inszenierung sein kann, darf bezweifelt werden. Dieser Eindruck wurde noch mehr betont als nach der letzten Aufführung dieser Saison zu Ehren des nach 20 Jahren scheidenden Intendanten Alfred Wopmann ein 15-minütiges Feuerwerk entfacht wurde, das in dieser Form einmalig bleiben wird. Der ohnehin schon während der Show durch verschiedenste Beleuchtungs- und Glasbauelemente im Mittelpunkt stehende Wolkenkratzer bildete zusammen mit dem klassisch gehaltenen, bunten Leuchtregen eine unwirkliche Kulisse: Die Pyrotechniker hatten ganze Arbeit geleistet und ließen den nächtlichen Sternenhimmel über dem Bodensee in allen Regenbogenfarben erleuchten. Dass zu diesem Zeitpunkt alle an der »West Side Story« Beteiligten – Darsteller, Musiker, Backstage-Mitarbeiter – ebenfalls auf der Bühne standen, wurde vom begeisterten Publikum kaum noch wahrgenommen…

Michaela Flint

Theater: Bodenseebühne, Bregenz
Besuchte Vorstellung: 19. August 2003
Darsteller: Jesper Tydén, Andreas Wolfram
Musik: Leonard Bernstein
Fotos: Arnulf Gieße