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Caroline, Or Change

Etwas erfrischend Ernstes und Bedrückendes hält das Londoner National Theatre in dieser Spielzeit mit „Caroline, or Change“ bereit. Wer die Nase voll hat von Compilation- oder Slapstick-Shows wie „Mamma Mia!“, „Daddy Cool“ oder „Avenue Q“ wird sich im kleinen Lyttelton Theatre sehr wohl fühlen.

Erzählt wird die Geschichte des farbigen Dienstmädchen Caroline, das in den frühen 1960er Jahren in einem jüdischen Haushalt für Ordnung sorgt. Caroline hat drei kleine Kinder, die sie allein versorgen muss. Zudem sucht der Sohn ihres Arbeitgeber immer mehr ihre Nähe, da er sich nach dem Tod seiner Mutter zuhause nicht mehr geborgen Fühlt: Sein in Lethargie verfallener Vater hat eine neue Frau, die aber mehr ihre eigene Anerkennung im Sinn hat als das eigentliche Familienleben. Als dann John F. Kennedy erschossen wird, sorgt das nicht nur auf politischem Parkett für Unruhe…

Die Waschküche ist das Reich von Caroline. Hier fühlt sie sich wohl und kann sich in ihre Traumwelt flüchten. Wunderbar ist die Darstellung ihrer ständigen Freunde Radio, Waschmaschine und Trockner: Das Radioprogramm wird von drei Soul-Ladies dargeboten, während Waschmaschine und Trockner durch je einen weiblichen und männlichen Gesangsolisten gesungen werden. Caroline darf sich mehr als einmal gute Ratschläge von ihren ungewöhnlichen Freunden anhören.

Auch Noah, der Sohn von Carolines Boss, fühlt sich im Keller des Hauses zunehmend wohl. Es entwickelt sich eine ungleiche Freundschaft zwischen Dienstmagd und hochwohlgeborenem Sohn, bei der Caroline sich sicher sein kann, dass ihre Leidenschaft für Zigaretten nicht verraten wird und Noah sich ungeniert seinen Kummer von der Seele reden kann.

Vater und Sohn vergessen oft Wechselgeld in ihren Hosen. Da Caroline ein durch und durch ehrlicher Mensch ist, behält sie das Geld nicht, sondern sammelt es in einem Behälter. Die „böse Stiefmutter“ Rose beobachtet die Geschehnisse mit Argwohn und Neid. Sie kann und will nicht akzeptieren, dass Noah sie konsequent ablehnt und sich lieber mit Caroline umgibt. Um einen Keil in diese Freundschaft zu treiben, erlaubt sie Caroline das gefundene Geld zu behalten, was diese nach einigen Skrupeln annimmt. Im nächsten Schritt sorgt Rose dafür, dass Noah nicht nur kleine Münzen in seiner Hose vergisst, sondern sein Chanukka-Geschenk, immerhin 20 Dollar, vom Großvater in Carolines Händen landet. Während Caroline das Geld nicht behalten möchte, glaubt Noah, dass seine Freundin ihn betrogen hat und wendet sich von ihr ab.

Die verschiedenen Einzelschicksale werden von Tony Kushner („Angels in America“) sehr real und beklemmend dargestellt.

Das Stück steht und fällt mit einer charismatischen Hauptdarstellerin, die die hohe Leidensfähigkeit der Dienstmagd zu transportieren vermag. Tonya Pinkins hat die Rolle der Caroline bereits bei der Broadway-Premiere gespielt. Sie wirkt routiniert und spielt ohne Schnörkel. Diese gerade Linie macht sie nicht zum Publikumsliebling und einer Figur, mit der man mitfühlt, aber dennoch trägt sie die Show auf ganz spezielle Weise. In ihren Gesangsnummern fängt sie das Publikum durch ihre Stimme ein und lässt es nicht mehr los.

Die Sänger von Radio, Waschmaschine, Trocker, Mond und Bus – Malinda Parris, Ramona Keller, Nataylia Roni, Joy Malcolm und Clive Rowe – begeistern durch tiefen Soul in der Stimme. Authentischer kann man die Gospel-und Soul-Songs von Jeanine Tesori nicht darbieten. Die ungewöhnliche Einbindung der Gegenstände in die Handlung wirkt keineswegs befremdlich, sondern passt perfekt zu der sehr puren Inszenierung von George C. Wolfe.

Die weiteren erwachsenen Darsteller sind eher schmückendes Beiwerk. Denn zum absoluten Geheimtipp des Abends entwickelt sich Pippa Bennett-Warner, die Carolines älteste Tochter Emmie spielt. Nur sehr wenige Jungtalente verfügen bereits im Teenager-Alter über eine derart perfekte Stimme. Ihre Darbietung als älteste Schwester ist überzeugend, ihre Gesangssoli sorgen für frenetischen Applaus.

„Caroline or change“ schürt die Hoffnung, dass es auch in Zukunft anspruchsvolle Musicals geben kann und die Branche nicht komplett in den Mainstream-Pop-Compilation-Bereich absinkt. So beklemmend die Handlung in diesem Fall ist, so brillant wird jedes noch so kleine Charakter-Detail von der großartigen Cast umgesetzt. Davon darf es auch in Deutschland gern mehr geben.

Michaela Flint
veröffentlicht in Blickpunkt Musical

Theater: National Theatre, London
Besuchte Vorstellung: 26. Oktober 2006
Darsteller: Pippa Bennett-Warner, Tonya Pinkins
Musik / Regie: Jeanine Tesori / George C. Wolfe
Fotos: Tristram Kenton