home 2004 Bei der „Hair“-Inszenierung in Pforzheim passt (fast) alles

Bei der „Hair“-Inszenierung in Pforzheim passt (fast) alles

Kurz vor dem Ende der Spielzeit 03/04 legt das Stadttheater in Pforzheim den Musical-Klassiker von MacDermot und Ragni/Rado neu auf und landet damit einen großen Treffer.

Im Mittelpunkt des Hippiemusicals stehen die Natürlichkeit und Ehrlichkeit einer ganzen Generation. Genau das hat sich das Theater-Ensemble zu Herzen genommen. Alle wirken authentisch und nur in ganz seltenen Momenten aufgesetzt oder gar steif. Zur gesanglichen Verstärkung hat man sich sechs Gäste eingeladen, die über Erfahrungen aus zahlreichen Musical-Engagements verfügen: Randy Dean Diamond als ‚Sippenführer’ Berger, Carsten Axel Lepper als Jung-Hippie Claude, Tina Podstawa als ‚Everybody’s Darling’ Sheila, Lada Kummer als Jeanie, Tamara Wörner als Querdenkerin Ronny und Lutz Thase als Hubert und Cover von Claude und Berger.

Die Inszenierung wartete mit einer Offenheit auf, die man an einem Stadttheater kaum für möglich gehalten hätte. So begrüßte das enthusiastische Ensemble die Besucher der Premiere am 4. Juni direkt im Saal und bezog das Publikum durch das Verteilen von Blumen, die nicht ganz ernst zu nehmenden Fragen nach ‚etwas zum Rauchen’ und witzige Improvisationen („Sitzen Sie auf meinem Platz?“) von Anfang an direkt mit in das Geschehen ein.

Aufmerksamkeitsmagnet ist zunächst Berger (Randy Dean Diamond), der seine Männlichkeit beweist, indem er seine Jeans ins Publikum wirft und die Folgeszenen äußerst knapp, nur mit Lendenschurz bekleidet, spielt.

Ja, „Hair“ ist sexy – keine Frage. Auch in dieser Produktion steht die gesamte Cast zum Finale des ersten Akts in Adams- und Evakostümen auf der Bühne. Und selbstverständlich gibt es auch viele mehr oder weniger eindeutige Anspielungen, aber es sind nicht Nacktheit oder hemmungsloser Partnertausch, der in Pforzheim die Inszenierung bestimmen. Vielmehr sind es die liebenswerten Darsteller, die ihre Erlebnisse auf persönliche, einfühlsame Weise berichten. Nachhaltig beeindruckend sind hier die beiden Leitfiguren Berger und Claude, die ihren Stamm (und auch das Publikum) immer wieder mitreißen. Carsten Axel Lepper und Randy Dean Diamond führen ein sympathisches Ensemble an, setzen an den richtigen Stellen die Akzente, die man von einem erfahrenen Musical-Darsteller erwarten darf, ohne sich jedoch über die Stadttheater-Kollegen zu erheben.

Während die deutschen Dialoge aus der Feder von Frank Thannhäuser (Intendant des Hamburger Imperial Theaters) und Nico Rabenald betont locker und ungezwungen sind, hat man bei den Songs das englische Original beibehalten. Auch hiermit wird erneut der Authentizität Tribut gezollt. Und mal ehrlich, wer möchte schon eine übersetzte Fassung von „Aquarius“ oder „I got life“ hören? Bemerkenswert ist, dass alle Sänger nahezu akzentfreies Englisch beherrschen und phonetisch überzeugen.

Randy Dean Diamond hat damit als gebürtiger Amerikaner natürlich keine Probleme und bringt einen extrovertierten George Berger auf die Bühne, der – im Gegensatz zu anderen Inszenierungen – auch Sympathiepunkte sammeln darf. Mit spielerischer Leichtigkeit und viel Charme überzeugt er auch den letzten Zweifler von der Sinnhaftigkeit seines Lebens („Going Down“).

Carsten Axel Lepper verleiht Jung-Hippie Claude mit seiner warmen Stimme genau das träumerisch-sanfte Element, das sein Alter Ego aus dem Hippie-Stamm heraushebt und ihn zum Liebling von Sheila und Jeanie macht. So fesselt er die Zuschauer mit der ergreifenden Ballade „Where do I go?“. Dass er auch anders kann, beweist er während der aggressiven UpTempo-Nummer „I got life“, in der er sich gegen jegliche Repressalien von außen auflehnt.

Tamara Wörner gibt eine stimmgewaltige Ronny und ihr Einsatz bei „Black Boys“ ist absolut hörenswert und das Intro „Aquarius“ sorgt für Gänsehaut. Tina Podstawa kreiert eine sehr harmonie-bedürftige Sheila, die ihrer Liebe zu Sippenführer Berger genauso glaubwürdig Ausdruck  („Easy to be hard“) verleiht wie ihrem Kampfgeist für die gute Sache („Ain’t got no“).

Allen Hauptdarstellern gemeinsam ist, das man ihnen das Unbeschwerte und Leichtlebige der späten 60er Jahre bedenkenlos abnimmt. Schauspielerisch lässt es das Ensemble an nichts vermissen. Emotionen werden genau richtig dosiert und wecken wahlweise mitleidige oder kämpferische Gefühle beim Betrachter.

Die Inszenierung von Craig Simmons hat Ähnlichkeit mit der Europatournee von Wolfgang Bocksch Concerts im vergangenen Jahr doch besticht sie nicht durch ‚Hübschheit’ und Geradlinigkeit, sondern durch spürbare Harmonie innerhalb der Cast. Zwar gibt es auch in Pforzheim zwei Stahl-Treppen-Konstruktionen, die auf die ein oder andere Weise mit bespielt werden und auch die Video-Leinwand im Hintergrund fehlt nicht, doch eigentlich braucht man diese ausschmückenden Elemente nicht wirklich. Die Authentizität jedes einzelnen ist in jeder Szene sichtbar.

Man merkt, dass die Darsteller an dem Entstehungsprozess aktiv beteiligt waren (siehe Interview mit Carsten Axel Lepper). Das fängt bei der Auswahl der Kostüme an, die zum Teil aus den privaten Kleiderschränken stammen und zieht sich weiter durch die bewusst unkoordiniert-chaotischen Choreographien. Das Sinn-Entleerte „Manchester England“ wurde mit einer albernen Hampelmann-Choreographie bedacht, die perfekt zu dem Bonbonfarbenen Gute-Laune-Song von Möchtegern-Engländer Claude passt. Diese Spaßelemente werten die choreographische Arbeit von James Sutherland in keinster Weise ab. Im Gegenteil, genau dieser Abwechslungsreichtum ermöglicht dem sportlichen Tanzensemble (die meisten sind ausgebildete Ballett-Tänzer) viele Variationen, sich immer wie neu auszuprobieren. Was hierbei ins Auge sticht, ist, dass sich Carsten Axel Lepper, der in seinen bisherigen Rollen nicht tanzen brauchte, neben dem ausgebildeten Tänzer Randy Dean Diamond absolut nicht zu verstecken braucht. Innerhalb kürzester Zeit hat der ehemalige Kaiserinnen-Mörder und Christine-Geliebte ein beachtliches Körpergefühl entwickelt und fügt sich hervorragend in das natürliche Gesamtbild dieser Produktion.

Dass eine Inszenierung von „Hair“, besonders wenn sie so offen gestaltet wird wie in Pforzheim, auch einige Tücken birgt, wird beispielsweise am Spannungsaufbau deutlich. Es waren Applauspausen vorgesehen, in denen das Publikum (warum auch immer) nicht applaudierte.

Auch die Szene, in der Claude minutenlang auf seinem ‚Mega-Trip’ ist und die schrägsten Halluzinationen erlebt, hat einige Längen und es fällt schwer, dem Geschehen konzentriert zu folgen. Doch wer bei „Hair“ alles verstehen will und hinterfragt, ist sowieso im falschen Theater. Denn „Hair“ ist Lebensfreude und bedingungsloser Spaß – das gilt auch fürs Publikum. Noch Minuten nach dem Ende des 2. Akts tobten die Zuschauer und der Musikalische Leiter Boris Ritter gab mit seiner neunköpfigen Band eine Zugabe nach der anderen…

Diese Produktion ist für ein kleines Stadttheater mit bescheidenen finanziellen und technischen Mitteln eine beachtliche Leistung. Das Theater Pforzheim stellt eindrucksvoll unter Beweis, dass man kein Takt- und Zentimeter-genaues Staging und gleichermaßen gut singende wie tanzende Multitalente auf der Bühne braucht, um das Publikum zu begeistern.

Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical

Theater: Stadttheater Pforzheim
Premiere: 4. Juni 2004
Darsteller: Carsten Lepper, Randy Dean Diamond
Buch / Musik: MacDermot / Ragni &Rado
Fotos: Stadttheater Pforzheim