home 2016 Ein Familienmusical mit einer politischen Aussage

Ein Familienmusical mit einer politischen Aussage

Christian Berg hat jahrelange Erfahrung auf dem Gebiet der Kinder- und Familienmusicals. Im Altonaer Theater fand nun die Wiederaufnahme seiner im letzten Sommer uraufgeführten Fassung von Charles Dickens’ „Oliver Twist“ statt.

Die Kulissen sind schön düster und in grau-braun gehalten. So stellt man sich englische Städte in der Blütezeit der Industrialisierung vor. Auch die Kostüme sind zeitgemäß und für eine kleine Produktion wie diese mehr als angemessen. Für beides zeichnet Ulrike Engelbrecht verantwortlich.

Der Prolog, in dem eine Theatertruppe sich vorstellt und ankündigt, dass sie die Geschichte von Oliver Twist erzählen wird, ist etwas langatmig und eigentlich auch nicht notwendig, um die Geschichte zu verstehen. Die Vorstellung der Hauptfigur, dem Waisenjungen Oliver Twist, ist auch etwas zäh, doch danach nimmt das Stück deutlich an Fahrt auf. Die Brutalität von Mr. Bumble (Petter Bjällö), dem Fürsorgevorsteher in Olivers Heimatstadt, wird mehr als deutlich. So ist es für Oliver eine Erleichterung mit neun Jahren beim Sargtischler einen Job zu finden, entkommt er so doch dem Kohlenkeller und der Wassersuppe.

Der Tanz des Tischlerpaares mit den Särgen („Gestorben wird immer“) ist herrlich schräg, auch wenn das Rock’n’Roll-Thema so gar nicht zu den übrigen Songs aus Konstantin Weckers Feder passen mag.

Als Tischlerlehrling Noah Olivers bei der Geburt verstorbene Mutter beleidigt, rastet dieser aus, verliert in der Folge den Job und flieht nach London, wo er sich ein besseres Leben erhofft. Warum sowohl Noah als auch Oliver von Frauen gespielt werden, erklärt sich nicht. Es gibt sicherlich auch männliche Nachwuchsdarsteller, die diese Rollen mit gleicher Energie und Herzlichkeit übernehmen könnten.

Olivers Flucht wird mit Musik untermalt, die an einen süßlichen ZDF-Sonntagsfilm erinnert. Sie wirkt gewollt rockig-schwungvoll, ohne jedoch tatsächlich die gewünschte Energie auf das Publikum übertragen zu können. Das traurige Solo („Liebe Mami“) hingegen wird von Saskia Marie Senne alias Oliver Twist sehr anrührend vorgetragen.

An dieser Stelle wird es zum ersten Mal politisch: Christian Berg, der in mehreren Rollen mit auf der Bühne steht, führt ein Zwiegespräch mit seiner Kasperle-Puppe (im englisch „Punch“ genannt). Über Olivers Flucht in die fremde Großstadt wird ein Bezug zur Flüchtlingskrise hergestellt, die Europa seit Sommer 2015 intensiv beschäftigt. Auch das viel zitierte „Wir schaffen das!“ von Angela Merkel wird mit untergebracht.

Das anschließende „Tu doch was Dein Herz Dir sagt“ – quasi der Titelsong der Show – ist schwungvoll, kindgerecht und verbreitet gute Laune.

Mit die souveränste Leistung liefert Alexandra Kurzeja als Artful Dodger ab. Als Bandenchef nimmt sie den schüchternen Oliver unter ihre Fittiche und lehrt ihn, wie er sich in der großen Stadt mit den vielen Straßen und unzähligen Menschen zurechtfindet. „Mach Dir die Stadt zu Deinem Königreich“ ist ein passendes Stück, das auch choreographisch (Ute Geske) sehr gut ausgearbeitet ist. Der Song, mit dem Oliver sein neues Handwerk beigebracht werden soll, „Kleptomanie“, ist ebenfalls rund, allerdings fragt sich, wie viele Kinder wirklich verstehen, was Kleptomanie bedeutet. Zumal dieser Begriff inhaltlich auch nicht ganz korrekt ist, denn die Kinder rund um Dodger stehlen ja nicht aus pathologisch zwanghaften Gründen, sondern weil sie von Fagin entsprechend angetrieben werden.

Nach den ersten 60 Minuten, quasi als Finale des 1. Akts, wird das Stück unterbrochen, um der gesetzlichen Auflage nachzukommen, die vorsieht, dass Kinder nicht länger als 60 Minuten auf der Bühne stehen dürfen. Wieso allerdings andere Musical- und Theaterproduzenten es schaffen, dass ihre Bühnenkinder eine komplette Show absolvieren, ist vor diesem Hintergrund fraglich. Im §2 Abs. 3 des Jugendarbeitsschutzgesetzes heißt es, dass Kinder über sechs Jahren bis zu 3 Stunden täglich in der Zeit von 08.00 Uhr bis 22.00 an Veranstaltungen gestaltend mitwirken und an den erforderlichen Proben teilnehmen dürfen.

Nach der Pause erwacht Oliver, der zuvor in einer Gerichtsverhandlung wegen Diebstahls von seinem Kläger in Obhut genommen wurde, in einer anderen Welt. Sikes, der „Chef“ von Fagin, sucht den feinen Herrn Brownlow auf, um Oliver wieder zurück in seine Bande zu holen. Petter Bjällö spielt auch diesen Bösewicht überzeugend, und der Tango „Der Herr im Haus“, den er mit Dominik Müller (Brownlow) tanzt, gelingt gut. Die folgenden Kurzszenen und Dialoge stören den Fluss des Stücks arg, da zuviel Handlung in zu wenig Zeit gepresst wurde, und sind zudem nicht sprachlich kindgerecht.

Die beiden Erzählerpuppen (Katze und Maus) funktionieren hingegen ganz ausgezeichnet. Leider erscheinen sie etwas wahllos. Hier hätte man sich mehr zielgerechten Einsatz gewünscht, um den roten Faden nicht zu verlieren.

Nancy, die in Fagins Truppe groß geworden und inzwischen Sikes Geliebte ist, hat Mitleid mit Oliver und versucht, ihm zu helfen, indem sie verhindert, dass Sikes und Fagin ihn entführen. Doch vergebens, Oliver landet wieder in der Gosse bei Fagin und wird von Sikes zu einem gefährlichen Einbruch gezwungen. Er wird ertappt und auf der Flucht verletzt. Nancy schleicht sich zu Brownlow und berichtet, was geschehen ist. Sie verspricht, ihm Oliver zu bringen, damit dieser endlich in Sicherheit ist.

Sikes ist so aufgebracht als er von Nancys Plan hört, dass er sie brutal erschlägt. Dodger, der diesen feigen Mord mit angesehen hat, flüchtet zu Brownlow und verrät ihm, was passiert ist. Beim anschließenden Polizeieinsatz stürzt Sikes auf seiner Flucht vom Dach, während Fagin gefasst werden.

Oliver kann fortan in Frieden bei Mr. Brownlow leben, der in dem Jungen den Sohn eines guten Freundes wiedererkennt und alles tut, damit ihm das Schicksal seiner Mutter – von der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden – erspart bleibt. Und auch für Dodger und Charlie hat das Leben in der Gosse ein Ende: Mr. Brownlow besorgt ihnen anständige Jobs bei einem Schumacher.

Ende gut, alles gut. Zumindest theoretisch… Es folgt noch ein Aufruf von Christian Berg und seinem Ensemble, darauf zu achten, „was in Eurem Namen, in Eurem Land und Eurem Namen passiert“. Dazu halten die Darsteller Protestplakate hoch. Sie singen noch einmal gemeinsam „Tu was Dein Herz Dir sagt“ und dann ist wirklich Schluss.

Eine derartige Politisierung, die zudem künstlich aufgebauscht und mit Zwang hergestellt wird, passt nicht zu einem Familienmusical. Die Aussage, auf sein Herz zu hören, hätte vollkommen genügt und würde gut zur Handlung passen. Hier mit Druck noch eine politische Botschaft mit unterzubringen, wirkt deplatziert.

Die Spielfreude der Darsteller kann dies zwar nicht gänzlich wettmachen, aber dennoch überzeugen Saskia Marie Senne (Oliver), Alexandra Kurzeja (Dodger) und Ute Geske (Noah, Charly) insbesondere durch ihr gefühlvolles Spiel. Dominik Müller hat allein schon durch seine überragende Statur eine gewisse Bühnenpräsenz, aber als Mr. Brownlow kann er zudem auch mit Gesang und Schauspiel Pluspunkte sammeln. Valerija Laubach ist als Olivers Mutter und Nancy zu erleben und wirkt besonders in den schwachen, zarten Momenten glaubhaft. Gesanglich verkauft sie sich hier ein wenig unter Wert, was im Übrigen auch für Petter Bjällö gilt, der in Bergs „Oliver Twist“ ein Abo auf die fiesen Charaktere hat. Dass er stimmlich mehr drauf hat, kann er nur andeuten, aber die Gemeinheiten seiner Alter Egos darzustellen, gelingt ihm tadellos. Bleibt noch Christian Berg, der sein eigenes Stück als Theaterdirektor und Fagin mitbestimmt. Ihm stehen beide Rollen gleichermaßen gut, doch für die Konsistenz des Stücks wäre es sicherlich zuträglicher gewesen, wenn er sich auf die Erzähler-Figur konzentriert hätte.

„Oliver Twist“ ein unterhaltsames Familienmusical, bei dem optisch und darstellerisch alles stimmt, auch wenn der musikalische rote Faden leider nicht zu erkennen ist und einige Texte und Zusammenhänge für Grundschulkinder kaum zu verstehen sind. Wäre nicht die der Handlung nachträglich übergestülpte politische Aussage, würde ich von einer gelungenen Interpretation von Dickens’ Klassiker sprechen, so jedoch fällt mir dies zugegebenermaßen eher schwer.

Michaela Flint

Theater: Altonaer Theater, Hamburg
Besuchte Vorstellung: 3. April 2016
Darsteller: Saskia Marie Senne, Alexandra Kurzeja, Petter Bjällö, Ute Geske
Musik / Regie: Konstantin Wecker / Christian Berg
Fotos: G2 Baraniak / Harburger Theater