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Bernhard Volk: Wie entsteht ein Musical?

Michaela Flint: Sie sind Musikalischer Leiter der Neuen Flora in Hamburg. Was mögen Sie an dieser Aufgabe besonders?

Bernhard Volk: Ich habe viel Spaß dran, als Dirigent zu funktionieren. Ein Orchester mit vielen Instrumenten zu haben, bei dem man von jedem Instrument ein bisschen Ahnung haben muss und was auch von der Größe her einen gewissen Anspruch hat.
Ich brauche das Gefühl, jeden Abend die Show so zu machen, wie ich sie gerade fühle oder wo ich speziell reagieren muss, z.B. wenn die Sänger oder das Orchester ‚müde’ sind.

Besonders gern mag ich so große Chöre wie jetzt bei »Titanic«. Auch rein von der Arbeitsatmosphäre her ist es schöner, ein richtiges Ensemblestück zu haben. Denn man kann machen, was man will, es gibt immer Cast-Mitglieder, die ein bisschen neidisch sind, dass sie keine Hauptrolle haben. Und »Titanic« ist ziemlich befreit von diesen Problemen.

Michaela Flint: »Titanic« lebt von den Chornummern und ist ein nahezu reines Ensemblestück. Es fällt auf, dass es bei diesem Stück keine Musicalstars – wie beispielsweise Angelika Milster als Baronin von Waldstätten bei »Mozart!« – gibt, die im Mittelpunkt stehen und auf die sich alles konzentriert…

Bernhard Volk: Es hat viel Spaß gemacht hat, mit Angelika Milster zu arbeiten, auf besondere Eigenarten einzugehen und da diplomatisch so einiges zu regeln. (lacht)

Michaela Flint: Das bedeutet, dass man als Musikalischer Leiter nicht nur sein künstlerisches Handwerk ausgezeichnet beherrschen sollte, sondern auch ‚pädagogisch’ geschult sein muss. Wird einem das während der Ausbildung vermittelt?

Bernhard Volk: Es gibt viele verschiedene Wege, wie man Musikalischer Leiter werden kann. Vor allem hängt das von der Stilrichtung ab. Ich bin eher spezialisiert auf Stücke mit großem Orchester, großem Ensemble, weniger Bands, weniger Keyboardspielen, sondern wirkliches Dirigieren –so in etwa wie bei einem Sinfonieorchester.

Ich habe 10 Jahre lang studiert und auf dem klassischen Weg die Ausbildung zum Opernkapellmeister gemacht. Mein erstes Studium war ein Grundstudium mit Dirigieren als Hauptfach – aber auch Klavier, Klarinette, Gesang und Chorleitung. Der erste Abschluss, den ich gemacht habe, war ein pädagogischer Abschluss; da gab es dann auch tatsächlich Pädagogikvorlesungen. Der zweite war dann ein reines Kapellmeisterstudium, also nur noch Klavier, Dirigieren und andere orchesterspezifische Themen.

Michaela Flint: Wie sind Sie nach Ihrer Ausbildung schließlich zum Musical gekommen?

Bernhard Volk: Ich habe in Stuttgart studiert und ein Studienkollege von mir ging nach Ende seines Studiums als Stellvertretender Musikalischer Leiter zu »Miss Saigon«. Er hat mir erzählt, dass sie dort dringend Dirigenten brauchen. Also bin ich in dieses Theater gefahren – das war ein richtiges kleines Abenteuer für mich (lacht). Ich kannte bis dahin ja nur Opernhäuser…

Dort habe ich vordirigiert und auch sofort einen Job angeboten bekommen. Ich konnte ihn aber leider nicht annehmen, weil ich noch eine Stelle an der Musikschule hatte und auch mein Studium noch nicht abgeschlossen war.

Die nächste Produktion, für die dann jemand gesucht wurde, war »Das Phantom der Oper« hier in Hamburg. Ich bin angerufen worden, dass ich noch einmal vordirigieren solle. Und dann hat das hier geklappt! Ich war zwei Jahre Stellvertretender Musikalischer Leiter und bin dann Chef geworden. Und Spaß macht es mir immer noch! (lacht)

Michaela Flint: Wie viel Einfluss hat ein Musikalischer Leiter denn tatsächlich auf die künstlerische Gestaltung eines Musicals? Da sind doch bestimmt immer die Komponisten und/oder Texter des jeweiligen Stücks maßgeblich involviert?

Bernhard Volk: Als ich bei »Das Phantom der Oper« angefangen habe, gab es noch dieses ganz strenge Supervisor-System; man konnte eigentlich nichts machen, ohne es mit dem Supervisor abzuklären.

Bei »Mozart!« lief das schon ein bisschen anders, schon allein, weil Sylvester Levay, der Komponist, sehr präsent war. Er war bei den Proben dabei und hat – was ja auch nicht schlecht ist – seinen Eindruck und seine Wünsche geäußert.

Und bei »Titanic« war es jetzt so, dass ich das Stück mit den Sängern und dem Orchester so einstudieren konnte, wie ich dachte, dass es richtig sei. Das ist natürlich toll! Auf der anderen Seite kam Maury Yeston erst einen Tag vor der Premiere und da denkt man sich schon: ‚Was ist, wenn ihm das nicht gefällt?’

Michaela Flint: D.h. während der gesamten Proben hat der Komponist keine Kommentare abgegeben?

Bernhard Volk: Nein, der Regisseur hat sicherlich mit Maury Yeston gesprochen, ob das was ich mache bedenklich ist oder nicht. Aber er hatte wohl keinen Grund früher nach Hamburg zu kommen.

Michaela Flint: Gewähren Sie uns ein paar Einblicke hinter die Kulissen der künstlerischen Arbeit: Wie ist »Titanic« entstanden? Welche Phasen durchläuft ein Stück bis zur Premiere?

Bernhard Volk: Als ich Anfang Juli 2002 erfahren habe, dass »Titanic« das neue Musical in der Neuen Flora sein würde und ich Musikalischer Leiter bleiben würde, bin ich zunächst mit Sebastian Hund, dem Künstlerischen Leiter, nach Amsterdam gefahren, wo wir uns die holländische Inszenierung von »Titanic« angesehen haben. Das war die Grundvoraussetzung, um das Casting machen zu können: Man kann nichts casten, was man nicht kennt. Man muss genau wissen, welche Rollen welche Stimmen verlangen usw.

Der nächste Schritt war dann schon das Casting der Darsteller. Als Musikalischer Leiter man bei den Auditions dabei und sucht die Darsteller mit aus. »Titanic« ist sehr komplex – gerade weil es ein Ensemblestück ist. Sonst hat man fünf, höchstens zehn, Hauptrollen und weiß relativ schnell wie die stimmlich sein müssen. Aber hier bei »Titanic« hat jeder Darsteller irgendwann einen Solopart zu singen und da waren es dann 37 Rollen, wo wir genau wissen mussten, was gesanglich erforderlich ist. Von daher war es ganz gut, in der ersten Casting-Runde ein bisschen Unterstützung vom holländischen Dirigenten zu haben.

Es war schnell klar, dass das Orchester, was wir hier schon hatten, »Titanic« spielen würde. Die Produktion lief in Amsterdam mit 23 Musikern und wurde hier auch so übernommen. Das Orchester stand also fest und auch die Cast hatten wir nach den Callbacks zusammen. In der ersten Oktoberwoche haben wir mit den Ensemble-Proben angefangen.

Michaela Flint: Das erscheint aber doch recht spät, oder?

Bernhard Volk: Ja, aber zwei Monate vor der Premiere reichen aus. Die erste Woche – im Idealfall die ersten beiden – sind musikalisch, das heißt man probt dann den ganzen Tag, bildet Stimmgruppen für die Chöre usw. Zusätzlich proben alle verfügbaren Pianisten mit den Darstellern die Hauptrollen oder Soloparts.
Schon nach der zweiten Woche haben wir die CD aufgenommen. Wir haben dafür die Orchestrierung der holländischen Inszenierung genommen –zwar war ich dadurch künstlerisch ein bisschen gebunden, weil ich die Tempi und die Interpretation übernehmen musste, aber es war okay.

Michaela Flint: Ab wann – in diesem Ablauf – proben Orchester und Ensemble gemeinsam?

Bernhard Volk: Eigentlich gibt es vor der Premiere nur einen einzigen Termin, wo Cast und Orchester musikalisch zusammen proben, das ist die so genannte Sitzprobe. Im Idealfall sind dann alle in einem Raum zusammen, können sich sehen und hören, was sie sonst ja nie mehr können. (lacht)
Das Orchester probt vorher erst mal eine Woche lang allein: zehn Proben an fünf Tagen. Wenn man überlegt, dass ein probendes Sinfonieorchester für ein komplettes Konzertprogramm, das vielleicht eine halbe Stünde kürzer ist als »Titanic«, mit drei oder vier Proben auskommt, geht das. Und da »Titanic« das ist, was die Musiker hier gewohnt waren und dazu noch sehr gut geschrieben und instrumentiert ist, war es auf jeden Fall in dieser kurzen Zeit machbar.
Beim Ensemble ist es aufwendiger. Wir spielen acht Shows pro Woche, ohne Urlaub oder Sommerpause o. ä.. Da kommt man nicht mit einer Erstbesetzung aus, bei der jeder seinen Part immer spielt. Deshalb muss man jeden Part ‚covern’; man muss immer eine Zweitbesetzung haben und wir haben das Ganze sogar vierfach. Sonst hat man für die Hauptrollen je einen Cover und der Rest ergibt sich von allein. Hier brauchen wir für 37 Rollen vier Cover. Und genau das ist die Hauptarbeit nach der Premiere, allen Darstellern die verschiedenen Rollen beizubringen: Bei den Swings sind es 6-7 Rollen und bei denen, die nicht ‚First Cast’ sind, sind es vier Rollen, die gelernt werden müssen. Das ist schon ziemlich viel. Wir sind jetzt in der dritten Runde und sind wahrscheinlich Mitte März damit durch.

Da ist es natürlich schön, wenn – wie hier bei »Titanic« – alles in einer Hand ist: Ich habe das Orchester mit meiner Vorstellung eingeprobt genauso wie die Cast und dann passt das natürlich perfekt zusammen.

Michaela Flint: Dann kam die Premiere und Maury Yeston war so begeistert von Ihrer Arbeit, dass er spontan einen neuen Song geschrieben hat?

Bernhard Volk: Genau! Wir wollten eine Geschichte ‚durcherzählen’ – und zwar die zwischen den beiden 3. Klasse-Passagieren Jim und Kate. Leider hatten diese beiden Charaktere aber keinen gemeinsamen Song. Und natürlich kann man nicht zu Maury Yeston gehen und ihm sagen, in seinen Stück fehlt was, er solle doch etwas neues dazu komponieren. Er musste das selbst sehen und mit der Idee schwanger gehen. Anfang Januar hieß es plötzlich, der neue Song ist fertig, Maury Yeston kommt nächste Woche. Wir hatten aber noch gar keine Noten und konnten nichts vorbereiten! Er kam dann am Montag und am Freitag war der neue Song auf der Bühne. Ganz schnell, mal eben so. (lacht)

Michaela Flint: Sie stehen fast jeden Abend auf Ihrem Podest im Orchestergraben. Wie schwer ist es, sich auf die einzelnen Leute einzustellen? Oder ist das bei »Titanic« leichter, weil es ein Ensemblestück ist? Einfach gefragt: Können Ensemble und Orchester ohne den Dirigenten überhaupt spielen?

Bernhard Volk: Nein, in diesem Stück funktioniert das nicht. Es gibt organisatorische Sachen, wie z. B. das Aus-Timen des Orchesters auf die Bühnenbewegungen. D. h. ist der Umbau fertig oder nicht? Habe ich heute jemanden, der den musikalisch begleiteten Dialog schneller oder langsamer spricht? Am Ende vom ersten Akt wird z. B. ganz viel gesprochen; darunter läuft aber 10 Minuten lang Musik und da muss man schon genau hinhören, wo die Darsteller im Text sind und das ganze tempomäßig anpassen, sonst geht es am Ende nicht auf.

Außerdem ist es immer so, wenn viele Leute zusammen sind: Einer muss als Chef akzeptiert sein. Natürlich mache nicht ich die Show, aber es ist vergleichbar mit dem Stage-Manager, der die einzelnen Abläufe hinter der Bühne koordiniert und ohne den es Backstage ziemlich chaotisch zugehen würde.
Gerade die unterschiedlichen Menschen machen die Sache erst richtig interessant. Wenn man jemanden anderen auf der Bühne hat oder einen Aushilfsmusiker im Orchester, also eine andere Zusammensetzung als üblich, muss man hier und da ein bisschen genauer gucken, den einen oder anderen an die Hand nehmen. Wenn z. B. der Flötist eine bestimmte Phrase besonders schön spielt oder einen langem Atem hat, kann ich mir erlauben, das mehr auszuspielen.

Michaela Flint: Das bedeutet, dass Sie die 60 Menschen auf und ‚unter’ der Bühne wirklich sehr genau kennen müssen?

Bernhard Volk: Ja, aber das kommt automatisch. Jeder, der bei »Titanic« auf der Bühne singt, hat das mit mir zusammen gelernt, genauso wie das Orchester – alles meine Kinder. (lacht)

Michaela Flint
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