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Villa Sonnenschein – Von Puppen und Menschen

Kennen Sie Tukulele? Nein? Dann wird es aber Zeit…

Tukulele ist das bevorzugte Reiseziel von Dr. Mathieu und weckt in der „Villa Sonnenschein“ in Form einer Dia-Show Fernweh. An der Nordküste der Insel Mubatomba im südmipentinischen Meer gelegen, dient Tukulele seit einigen Jahren Pharmakonzernen als Ort für Kongresse korrupter Kassenärzte. Wer sich die Dias von Dr. Mathieu genauer anschaut, erkennt im Hintergrund den Hamburger Hafen. Genau das ist der Kult hinter der Show…

Das Schmidt Theater ist seit 1988 eine feste Größe im Hamburger Kultur- und Nachtleben. Neben TV-Auftritten, Bühnenpräsenz in den skurrilsten Rollen und Ausflügen ins Regiefach ist Corny Littmann, der Inhaber vom Schmidt Theater und dem daneben liegenden Schmidt’s Tivoli, auch Künstlerischer Leiter bei Seelive Tivoli, die die AIDA-Clubschiffe mit verschiedensten Showprogrammen ausstatten.

blickpunkt musical warf einen ausführlichen Blick hinter die Kulissen des mit 400 Plätzen gar nicht so kleinen Kulttheaters auf dem Hamburger Kiez und traf dabei Corny Littmann, der als Inhaber des Theaters alle Zügel fest in der Hand hält, unterhielt sich mit Nik Breidenbach über die Ähnlichkeit zwischen einem Schauspieler und seiner Puppe und folgte Multitalent Heiko Wohlgemuth in die Puppenwerkstätten, erfuhr von ihm wie das „Altersheim“-Stück entstand und warum er immer wieder als Darsteller mit auf der Bühne steht.

„Villa Sonnenschein“ war im Sommer 2005 die Eröffnungsproduktion für das „neue“ Schmidt Theater. Der Premiere ging der Abriss des 1988 von Corny Littmann eröffneten Schmidt Theaters und der zeitgemäße Wiederaufbau voraus. „Die Gewissheit, dass das alte Theater verschwindet, war schon schwer zu ertragen.“ gibt Corny Littmann zu, „Jetzt ist alles sehr modern. Wir haben hier eine wunderbare Symbiose aus dem Alten und dem notwendig Neuen geschaffen. Die Bühnentechnik wurde aktuellen Standards angepasst, die Garderobensituation, die im alten Theater wirklich sehr unglücklich war, entspricht dem eines modernen Theaters. Es ist uns gelungen, den alten Geist in das neue Theater hinüberzubringen. Ich sehne mich nicht zurück nach dem kleinen Schmidt Theater. In unserem neuen Haus bin ich rundum glücklich.“

Die beiden Theater von Corny Littmann lassen immer wieder durch erfolgreiche Eigenproduktionen aufhorchen. Dazu zählen u. a. „Fifty, Fifty“, „Swinging St. Pauli“, die „Heiße Ecke“ und seit letztem Jahr eben die „Villa Sonnenschein“. Nicht ohne Stolz erläutert Corny Littmann das Konzept: „Wir machen konsequent Eigenproduktionen. Wir leben davon, dass wir eigene Stücke erfinden und diese auf der Bühne weiterentwickeln. Dazu gehört natürlich auch ein über die Jahre gewachsenes kleines Kreativteam.

Mit Martin Lingnau, Thomas Matschoß und Heiko Wohlgemuth haben wir erfolgreiche Komponisten, Autoren und Texter direkt bei uns im Haus. Der beste Beweis für den Erfolg unseres Teams sind die verschiedenen Tour-varianten von „Swinging St. Pauli“ und von der „Heißen Ecke“ ist im letzten November schon die 500. Vorstellung gelaufen. Wenn man es auf den Punkt bringen will, kann man sagen, dass wir die uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten konsequent ausnutzen. Das Gegenbeispiel ist die Stage Entertainment, die mit der deutschen Fassung von „Mamma Mia!“ alle Kritiker hat verstummen lassen und sich mit „Pinkelstadt“ richtig was getraut hat. Aber seitdem? Es kommt eben nichts nach. Das ist im Vergleich zu deren Möglichkeiten ziemlich dürftig. Und wir stellen laufend neue Eigenproduktionen auf die Bühne.“

Sprechende Puppen und Bettpfannen, singende Blumen und Wildschweine sowie stundenlang piepsende Hauptdarsteller – all das bietet die „Villa Sonnenschein“ (Premierenbericht). Die Figuren, das Bühnenbild, die Texte zeugen von viel Kreativität im Hintergrund. Doch wie kommt man auf die Idee ein Musical über die korrupten, menschenverachtenden Vorgänge in einem Altersheim zu machen? Mit-Autor Heiko Wohlgemuth berichtet von der ursprünglichen Idee, ein Musical über den Kiez zu machen „mit Feuerschluckern, boxenden Känguruhs usw. Daraus wurde dann letztlich erstmal die „Heiße Ecke“. Aber die Idee, etwas mit Puppen zu machen war immer noch da. Nachdem ich mit Corny und Martin dann „Avenue Q“ am Broadway gesehen hatte, waren wir so begeistert, dass sich gleich die ersten Ideen entwickelten. Für mich als Henson-Fan – ich liebe die Muppet Show, Sesamstraße usw. – eröffnete sich eine große Spielwiese. Schon als ich hier im Schmidt’s angefangen habe, habe ich schnell Puppen wie das sprechende Mikro und Pit Bull in die Programme eingebaut, an denen ich beteiligt war.“ „Das mit den Puppen ist keine neue Erfindung von uns. Wir fanden das, was die in New York gemacht haben einfach klasse und haben überlegt, wie wir das bei uns in Deutschland umsetzen können.“ ergänzt Corny Littmann.

Heiko Wohlgemuth führt weiter aus, dass die Puppen in „Villa Sonnenschein“ in dem vollen Bewusstsein eingesetzt wurden, dass Vergleiche mit „Avenue Q“ gemacht werden. „Doch das Puppenspiel ist ja nicht in Amerika erfunden worden und auch nicht hier. Es ist nur in dieser Form Deutschland noch nicht umgesetzt worden. Ich könnte das Argument verstehen, wenn wir die Handlung abgekupfert hätten. Für mich war der Hauptgrund für den Einsatz der Puppen, dass man damit direkt an die Kinderseele jedes Zuschauers rührt.“ Corny Littmann fügt hinzu, dass es für die Gäste ein besonderer Reiz ist, herauszufinden, wie und von wem die verschiedenen Puppen gespielt werden. „Bei „Avenue Q“ gibt es nur einen Überraschungsmoment, wo eine Pizzapackung anfängt zu sprechen. Diese Idee haben wir zwar aufgenommen, aber bei uns sprechen Bettpfannen, Kissen, Blumen usw. – viel mehr und viel ungewöhnlichere Gegenstände.“

Jetzt wissen wir zwar, weshalb die Puppen eingesetzt wurden, aber so richtig klar ist immer noch nicht, warum Rentner im Mittelpunkt der Handlung stehen und Corny Littmann für seine Rolle sogar eigens Rollstuhl fahren lernen musste. Heiko Wohlgemuth versucht, das zu erklären: „Alte Leute sind von einer ganz bestimmten Aura umgeben. Man empfindet automatisch Mitgefühl und Sympathie für einen alternden US-Schauspieler, der sich durch eine Talk-Show schlägt. Den Ausschlag hat bei mir der Besuch von „Titanic“ gegeben. Ich fand das Stück im Großen und Ganzen eher fade. Als ich das alte Ehepaar gesehen habe, dachte ich – ja, da ist es wieder. Ich fühlte mich durch deren Geschichte wesentlich mehr berührt als durch die ganzen jungen Schicksale, die dort dargestellt wurden. So kam es zu der Idee, die Handlung in ein Altersheim zu verlegen.“

Erfahrungsgemäß ändert sich bei den Eigenproduktion aus der Schmidt’s-Fabrik während des Spielbetriebs noch eine ganze Menge. Auch bei der „Villa Sonnenschein“ wurde in den ersten 100 Shows noch viel an den Dialogen, den Gags, den Songs usw. gebastelt. „Unsere Stücke werden zu einem gewissen Anteil auch immer vom Ensemble mitgeschrieben.“ erläutert Heiko Wohlgemuth, „Alle, die in irgendeiner Form daran beteiligt sind, geben uns Tipps und Anregungen, die wir dann diskutieren. Aber ich kann mich an keine Show erinnern, bei der wir noch drei Tage vor der Premiere so viel geändert haben. Wir hatten drei verschiedene Openings für die „Villa Sonnenschein“ und haben immer wieder probiert, welches am besten ankommt. Und wenn ein Gag an einem Tag nicht funktioniert hat, haben wir ihn am nächsten Tag geändert.“

Das Spielen der Puppen gehört zu den Dingen, die sich das Team gemeinsam erarbeitet hat. Heiko Wohlgemuth, der als Zweitbesetzung von Dr. Mathieu ebenfalls regelmäßig auf der Bühne steht, erzählt, dass für richtigen Unterricht bei einem professionellen Puppenspieler keine Zeit war: „Keiner von uns hatte Erfahrungen im Puppenspiel. So was lernt man eben nicht auf der Schauspielschule.“ Nik Breidenbach pflichtet seinem Kollegen bei: „Der Umgang mit den Puppen hat sich von selbst entwickelt. Ich liebe es, mit diesen Puppen zu spielen. Man ist so dicht dran am Publikum. Ich spiele durch die Puppe hindurch und verstecke mich auch irgendwie dahinter. Es ist eine andere Art zu Spielen, die mir als Schauspieler auch eine andere Freiheit ermöglicht.“ Hinter der Bühne geht es – für den Zuschauer unsichtbar – oft recht hektisch zu. Die fünf puppenspielenden Darsteller spielen ja nicht nur eine, sondern teilweise bis zu drei Figuren. Nik Breidenbach ist neben dem eitlen Dr. Mathieu auch noch als allwissende, ständig plappernde Pflanze Julio und als Tod zu erleben: „Raus aus dem Doktor, rein in die Pflanze, den Gang hinter mir dann so freihalten, dass die anderen von vorbeigehen können, mich das Publikum aber nicht sieht.

Mit dem einen Arm noch in Julio, in der anderen Hand schon den Tod… Es ist alles recht eng und muss sehr schnell gehen, aber es macht einen Heidenspaß.“ Heiko Wohlgemuth ergänzt nüchtern (aber nicht ohne Stolz): „Wir haben auch eine gute Truppe.“

Was bei einem Aufenthalt in der „Villa Sonnenschein“ auffällt, ist dass die Puppen eine gewisse Ähnlichkeit mit ihren spielenden Menschen haben. Nik Breidenbach lacht: „Das kann gar nicht sein. Dr. Mathieu war schon fertig, bevor ich überhaupt wusste, dass ich diese Rolle spielen würde.“ Auch Heiko Wohlgemuth bestätigt, dass die Puppen sich überhaupt nicht an den Darstellern orientieren konnten, da aufgrund des Zeitdrucks Auditions und Puppenbau parallel stattfanden. Der Bau der Puppen stellte dabei eine wesentlich größere Herausforderung dar, als vorher angenommen: „Ein professioneller Puppenbauer braucht ca. zwei Jahre Vorlauf für das Kreieren von Puppen. Wir hatten aber nur vier Wochen Zeit. Wir haben viele Entwürfe gesehen, aber keiner war das, was wir uns vorgestellt hatten.“ Das „Villa Sonnenschein“-Team fand die Rettung dann schließlich im eigenen Haus: Götz Furhmann, Darsteller in der „Heißen Ecke“, entwarf innerhalb von 24 Stunden einen Dr. Mathieu, der alle umhaute. „Ich weiß noch, wie er damit durch das Terrassenfenster schaute und wir alle befreit ausatmeten.“ beschreibt Heiko Wohlgemuth die Erleichterung über diese Schicksalsfügung.

Da mit Dr. Mathieu eine der wichtigsten Figuren schon fertig gestellt war, befasste sich Götz Fuhrmann mit den weiteren Charakteren. Anhand der Charakterbeschreibung von Heiko Wohlgemuth machte er sich Gedanken zu den Gesichtszügen jeder einzelnen Puppe und modellierte diese in Ton vor. Da alle Puppen verschiedene Gefühlsregungen zeigen, durften die Gesichter auf keinen Fall eindimensional sein. Nach ein bisschen Tüftelarbeit standen die markanten Falten und Furchen in den Tonmodellen fest. Anhand des hieraus gefertigten Gipsabdrucks wurden die Puppenköpfe dann aus Silikon gefertigt und mit Weichschaum aufgefüllt. Diese Materialien sind unerlässlich, da sie am leichtesten sind, denn immerhin tragen die fünf Darsteller ihre Puppen jeden Abend zweieinhalb Stunden herum und einen Bandscheibenschaden wollte keiner riskieren. Während sich Götz Fuhrmann also um die „menschlichen“ Puppen kümmerte, hat sich Multitalent Heiko Wohlgemuth an die Bettpfanne und Sonnenblumen gemacht. Hierbei stand vor allem die einfache Handhabung im Mittelpunkt: Man kann nicht 20 Personen hinter die Bühne stellen, um Lampen, Wildschwein, Bingo-Karton usw. zu spielen. Die lebendigen Requisiten mussten von maximal einer Person spielbar bleiben. Zahlreiche Versionen hat er durchprobiert bis er die sehr lebhaften Figuren fertig gestellt hatte.

Auf die Frage, wie viel man von sich selbst in die Figuren einbringt, ernten wir allgemeines Gelächter. „Die Figuren sind so abstrakt, dass man sich gar nicht mit ihnen identifizieren kann. Insofern macht es keinen Unterschied, ob man den Doktor, eine Pflanze oder ein Kissen spielt.“ so Nik Breidenbach. Heiko Wohlgemuth ergänzt: „Auf der Reeperbahn laufen jede Menge verschrobener Charaktere herum, die prima Vorlagen für Puppen jeglicher Art abgeben.“ Bei Corny Littmann verhält es sich etwas anders. Der schrullige, todessehnsüchtige Gustav ist wieder eine dieser Rollen, in denen sich der Chef am wohlsten zu fühlen scheint. „Je länger ich eine Rolle spiele, desto größer werden die Ähnlichkeiten. Dennoch arbeiten wir viel mit Klischees und stellen die Figuren völlig überspitzt dar.“ sagt Corny Littmann. Heiko Wohlgemuth gibt zu, dass er sich beim Schreiben dieser Rolle stark an Oma Lizzy aus „Pension Schmidt“ orientiert hat, die ebenfalls durch ihre unfreundliche, ruppige Art und ihre grenzwertigen Sprüche auffiel. Und natürlich wurde auch diese Figur von Corny Littmann gespielt.

Das Schmidt Theater und sein Chef sind Hamburger Originale, die Eigenproduktionen des Kreativ-Team Lingnau/Matschoß/Wohlgemuth sind Kult und bei soviel spürbarer Familiarität und Bodenständigkeit ist nachvollziehbar, warum auch in Zukunft viele Gäste den Weg an den Spielbudenplatz Nr. 27 finden werden.

Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical