home 2022 Ein berührendes Plädoyer für trans* Menschen

Ein berührendes Plädoyer für trans* Menschen

„Hedwig and the Angry Inch“ ist laut, schrill und kontrovers. Punkrock ist das musikalisch bestimmende Element, die Hauptfigur eine auf allen Ebenen gescheiterte Drag Queen, deren Schicksal nachdenklich macht und berührt. John Cameron Mitchell und Stephen Trask haben sich Hedwig, die als Hansel Schmidt in Ost-Berlin aufwuchs und trotz einer missglückten Geschlechtsumwandlung als Frau an der Seite von GI Luther in die USA auswandert, dort von Männern misshandelt wird und auch beruflich kein Glück findet, ausgedacht. Doch nach diesem Abend im Schweriner E-Werk kommt so manch einer im Publikum ins Grübeln…

Die Performancekünstlerin Lili Alexander steht im wahrsten Wortsinn im Mittelpunkt des Geschehens. Die Zuschauer sitzen links und rechts der Bühne, die famose vierköpfige Band unter der Leitung von Martin Schelhaas ist an der Stirnseite platziert und Itziar Lesaka, die in verschiedene Rollen schlüpft und als Kamerafrau fungiert, schließt den Kreis um die Bühne.

Noch bevor es überhaupt losgeht, führt Lili Alexander das Publikum ohne Umweg auf das Kernthema des Abends hin: Sie definiert sich als trans* nonbinär und hat für sich die Pronomen Sie / Ihr (They / Their) gewählt. Nur sehr wenige Menschen wissen, was genau damit gemeint ist, welche Konsequenzen diese Entscheidung hat sowie welchen Unwägbarkeiten und Diffamierungen sich trans* Menschen wie Lili gegenübersehen. Dies ändert sich an diesem Abend!

Lili Alexander schlägt den Bogen zu Hedwig, deren Leben glitzernd wie eine Discokugel ist. Auch Lili Alexanders Leben ist glitzernd. Und eigentlich, so sagt Lili, enden hier auch schon die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Künstlerinnen.

Da jedoch Hedwigs Geschichte immer wieder für Vergleiche mit Lili Alexanders Leben sowie Berichte aus dem Leben von trans* Menschen unterbrochen wird, kommt man schnell zu dem Schluss: Diese Inszenierung (Regie: Thomas Heep) hat nur sehr wenig mit dem eigentlichen Musical „Hedwig and the Angry Inch“ zu tun. Doch man sollte sich unbedingt darauf einlassen! Selten erlebt man ein Stück, in dem eine Künstlerin so pur und authentisch vor einem steht. Dieser Seelenstriptease ist nicht gespielt. Diese Tränen, diese ergreifende Gefühlsachterbahn sind echt.

Statements wie „Egal, ob OP, Hormonbehandlung oder gewählte(s) Pronomen – wir sind alle trans* Menschen!“ sprechen eine klare Sprache. Eingespielte Videos von einer Sitzung des TIM* (trans* und inter* Menschen in Mecklenburg) e.V., in denen Dysphorie, Diskriminierungen und Suizid thematisiert werden, rütteln wach und machen fassungslos. Fassungslos, ob der immer noch tief verwurzelten Denkschemata, die trans* Menschen aufgrund von Klischeevorstellungen oder Angst vor Andersartigem ausgrenzen oder wie Menschen niedrigster Klasse behandeln. Sprachlos und entsetzt, weil sie Behörden und Gutachtern nach wie vor beweisen müssen, warum sie so sind wie sie sind. Unglaublich und beschämend, was die TIM* Mitglieder hier berichten, was sie durchleiden mussten und immer noch müssen!

Lili Alexander macht „Hedwig“ anfassbar. Die zahlreichen Querbezüge bieten sich an und sind sehr gut gewählt. Als Sängerin überzeugt Lili Alexander vor allem in den Balladen, als Schauspielerin verfügt Lili Alexander über eine sehr authentische emotionale Bandbreite. Ja, es werden nicht alle Songs gesungen und ja, es ist kein Musical, das das Publikum an diesem Abend erlebt, aber diese Performance ist jede Sekunde wert! Besonders spannend ist dies, da Thomas Heep bereits 2017 in Frankfurt „Hedwig and the Angry Inch“ inszenierte, was gänzlich anders aussah, einen anderen Schwerpunkt hatte, aber die Zuschauer mindestens genauso mitriss.

Es gäbe noch unendlich viel zu Lili Alexander und der Schweriner „Hedwig“-Produktion zu erzählen, doch das einzig wichtige an diesem Abend ist: Wir sind alle Menschen! Warum lassen wir nicht jeden so leben, wie er/sie/sie es möchte/n und bieten unsere Unterstützung an?

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: E-Werk, Schwerin
Premiere: 13. März 2022
Darsteller: Lili Alexander; Itziar Lesaka
Regie: Thomas Heep
Fotos: Silke Winkler