Eindeutig unterschätzt

Der Opening Song von „Diana – The Musical” lautet “Underestimated”. Das könnte man auch sehr gut als Überschrift über die ganze Broadway-Produktion setzen. David Bryan (Musik) und Joe DiPietro (Texte) hatten ja einem erfolgreichen Try-Out im La Jolla Playhouse in San Diego auf eine Broadway-Premiere im März 2020 gehofft, die aber wegen der Covid-19 Pandemie bis November 2021 auf sich warten ließ. Und nach nur fünf Wochen fiel auch schon der letzte Vorhang für dieses Bio-Musical.

Glücklicherweise wurde die Show schon im Sommer 2020 für Netflix aufgezeichnet und dort im Herbst 2021 – noch vor der eigentlichen Broadway-Premiere – ausgestrahlt. Glücklicherweise allein deshalb, weil es nur allzu oft Musicals in New York gibt, die so kurz laufen, dass man in Europe keine Chance hat, diese zu sehen.

Die tragische, durch die Medien weidlich ausgeschlachtete Geschichte der Kindergärtnerin Lady Diana Spencer, die den britischen Thronfolger Charles heiratet und zum Popstar der Royals wird, ist in viel zu vielen Einzelheiten bekannt. Im Musical werden folglich auch nur die bekannten Themen behandelt; allerdings mit viel Sarkasmus und Berechnung. Inszeniert hat diese mitunter durch sehr überraschende Blickwinkel überzeugende Show Christopher Ashley.

Schon bei „Underestimated“ werden gleich zwei Perspektiven geboten: die der jungen, naiven Diana und die der sehr taktisch agierenden Camilla. Das ist unerwartet und macht Laune auf mehr. Wenn Charles und die Queen über das Leben seiner Zukünftigen sprechen und die Palast-Angestellten im Hintergrund vom „Worst job in England“ mit all seinen dunklen Seiten singen, erzeugt auch dies eine wissende, bedrohliche Atmosphäre für die junge Frau.

Camilla treibt ihren Geliebten Charles in die Arme des Mädchens („Her simplicity is so refreshing.“) und sorgt dafür, dass die beiden ihre Affäre trotz ihrer Ehen weiterführen können. Schon früh zeigt DiPietro jedoch die Aversion von Diana gegenüber dem royalen Korsett. Sie mag Charles und träumt davon, ihn zu verändern. Doch die Paparazzi treiben Diana wie den sprichwörtlichen Stier durch die Arena. Choreografisch ist „Snap, Click“ super umgesetzt (Kelly Devine). Die Mäntel der Medienvertreter als Muletas einzusetzen, ist sehr clever.

Eine zwar nicht übermäßig innovative, aber doch sehr gelungen umgesetzte Idee ist es, Dianas Schwiegermutter und ihre Stiefgroßmutter von einer Darstellerin spielen zu lassen. Queen Elizabeth II. und Barbara Cartland könnten unterschiedlicher nicht sein. Sowohl optisch (Cartland in klassischem Pink und die Queen in dunklem Twinset) als auch vom Ausdruck her (Cartland laut und schrill, die Queen sehr ruhig und streng) befinden sich die beiden Damen an den gegenüberliegenden Enden des Charakterspektrums. Auch musikalisch wurde dieser Verschiedenheit Rechnung getragen: Die Queen ist allzeit mahnend und auf die Etikette bedacht, während Cartland zum Auftakt des 2. Akts Lady Dianas Liebhaber, den Reitlehrer James Hewitt, auf wunderbar schlüpfrige Weise, vorstellt.

Nachdem sowohl die Queen als auch Camilla Charles davon überzeugt haben, dass er mit Diana an seiner Seite seine Pflichten als Thronfolger erfüllen kann, findet die Hochzeit statt. Natürlich inkl. weltberühmtem Sahnebaiser-Kleid. Dianas Zweifel werden bei „I will“ noch einmal mehr als deutlich dargestellt, doch schließlich schlüpft sie – wortwörtlich – in das Brautkleid und somit ihre neue Rolle. Dieser und auch weitere Kleiderwechsel sind extrem geschickt umgesetzt und sorgen für Erstaunen beim Zuschauer.

Diana erobert das Land mit ihrer charmant-natürlichen Art im Sturm. Charles ist frustriert, dass dieses dumme Ding mehr Zuspruch bei der Bevölkerung erhält als er, der er doch seit Jahrzehnten für solche Momente in der Öffentlichkeit trainiert. Dann trennt sich auch noch Camilla von ihm, die sieht, dass ihre Affäre der Monarchie schaden könnte.

Das Thronfolgerpaar kommt sich näher, bekommt zwei Söhne und das fragile Konstrukt kippt wieder. Diana hat Kindbettdepressionen, Charles ist sauer, dass sie ihm keine Tochter geboren hat und sucht Rat bei seiner Camilla. Dieses Telefonat, in der Charles Camilla seine immerwährende Liebe gesteht, hört Diana mit und geht in die Offensive. Sie nutzt ihre Beliebtheit und spielt diese gegen Charles aus. Nach ihrem Auftritt mit dem Royal Ballet eskaliert die Situation, gegenseitige Schuldzuweisungen und mangelndes Verständnis von Charles treiben die beiden immer weiter auseinander. Diana scheint Charles tatsächlich zu lieben und sucht verzweifelt nach einer Erwiderung ihrer Gefühle. Doch Charles findet, dass es ihr reichen muss, von der Welt bewundert zu werden.

Charles und Camilla lassen ihre Affäre wieder aufleben und die Ehe zu Dritt geht in die nächste Runde. Dianas Flucht in die Medien („Pretty, pretty girl in that pretty, pretty dress”) gibt ihr zumindest vordergründig die Befriedigung, die sie sucht. Dann lernt sie James Hewitt kennen und verliebt sich. „Him & Her“ zeigt sehr plakativ, wie das Thronfolgerpaar in seinen eigenen Welten lebt und nur noch für offizielle Anlässe zusammenkommt.

Diana lehnt sich, trotz des Agreements mit Charles, dass beide ihren privaten Vergnügungen nachgehen können, immer weiter gegen das königliche Zeremoniell auf und brüskiert nicht nur ihren Mann damit. Doch die Presse liebt sie für ihre Besuche auf AIDS-Stationen, Gänge über Tretminenfelder usw.

Auf einer Geburtstagsparty, die Charles mit Camilla besuchen wollte, klinkt sich Diana ein, begleitet ihren Gatten und sorgt für einen Eklat mit Camilla. Die muss erkennen, dass Diana längst nicht mehr das naive Mädchen ist, sondern sehr wohl gelernt hat, welche Strippen man ziehen muss, um seine Ziele zu erreichen.

Ihr nächster Schachzug ist ein anonymes Interview mit Andrew Morton, der ihre Geschichte in einem viel beachteten Buch niederschreibt. „The words / hate / lies came pouring out“ skizziert die Gefühle aller Beteiligten sehr treffend. Charles bleibt nur noch, seine jahrzehntelange Affäre mit Camilla öffentlich zu bestätigen. Doch auch diesmal stiehlt ihm Diana mit einem zeitgleichen Auftritt in einer Kunstgalerie die Show. Die Queen ist „not amused“ und bestellt beide zum Gespräch. Es wird deutlich, dass sie Diana durchaus verstehen kann („An officer’s wife“). Dennoch stimmt sie einer Scheidung zu, um endlich Ruhe in „die Firma“ zu bekommen. Ebenso erklärt sie sich damit einverstanden, Diana keine royalen Sicherheitskräfte an die Seite zu stellen, da Diana diese ablehnt.

Diana freut sich über und auf die neu gewonnene Freiheit, die jedoch (bekanntermaßen) nicht lange währt. Im Blitzlichtgewitter tauchen die Meldungen über ihren Unfall in Paris auf. Ihr Abgang nach der Bestätigung ihres Todes ist einmal mehr sehr treffsicher inszeniert.

Musikalisch ist „Diana – The Musical“ schwungvoll. Rock und Pop dominieren Bryans Klangwelt. Das erscheint manchmal widersprüchlich zur Handlung, doch im Großen und Ganzen funktioniert es. Ohrwurmpotential hat jedoch keiner der Songs.

Auch optisch ist dieses Musical nicht herausragend, aber das muss es ja – siehe Hamilton – auch nicht sein. Die schweren Tore von Buckingham Palace sind allzeit präsent, dienen mal als Hintergrund, mal als Barriere. David Zinne (Scenic Design) und Natasha Katz (Lighting Design) gelingt es aber dennoch in den einzelnen Szenen gute Akzente zu setzen, so dass es nicht allzu langweilig wird.

Bei den Kostümen hat sich William Ivey Long aus der Fülle an bekannten Kleidern von Lady Diana bedient. Man erkennt viele der Roben wieder, auch wenn es keine 1:1 Kopien sind. Angefangen bei den Kindergärtnerinnen-Blusen über die Kleider nach der Geburt der Söhne bis hin zum Brautkleid und dem „Kleinen Schwarzen“ bei der Galerie-Eröffnung. Ja, Lady Diana war eine Mode-Ikone für unzählige Frauen und der Wiedererkennungswert der gewählten Outfits in den verschiedenen Szenen ist sehr hoch.

Mit Ausnahme von Paul Burrell wurden alle Hauptrollen mit denselben Darstellern besetzt wie in San Diego. Jeanna de Waal stand schon in einigen Broadway-Produktionen („Wicked“, „Kinky Boots“) auf der Bühne, doch die Titelfigur in einem Musical war bisher nicht dabei. Sie gibt Lady Diana von Anfang an eine selbstbewusste Ausstrahlung, kann die Zweifel, das Opfer-Dasein und die Wut, die die Prinzessin zeitweise umtreiben sehr gut darstellen. Insbesondere „Happiness / Simply Breathe“ – als nach Harrys Geburt alles eskaliert – und „The Main Event“ – als es zur direkten Auseinandersetzung von Diana und Camilla kommt – bringt de Waal sehr intensiv über die Rampe. Verletztheit, Frust, Pflichtgefühl – all dies baut sie scheinbar spielerisch in die Szenen ein.

Erin Davie (u. a. „Sunday in the Park with George”) gelingt der Drahtseilakt von liebender Frau („I miss you most on Sundays“) und berechnender Mätresse sehr gut. Camilla zieht die Fäden im Hintergrund und Davie lässt keinen Zweifel daran. Auch als sie von Diana endgültig bloßgestellt wird („The Main Event“), bewahrt sie ihre Klasse.

Roe Hartrampf bleibt als Charles ähnlich blass und unauffällig wie sein reales Alter Ego. Den drei „mächtigen“ Damen in seinem Umfeld hat er nichts entgegenzusetzen, schon gar keine eigene Meinung. Er visualisiert das Klischee, das über Prinz Charles allgemein kolportiert wird. Auch das muss man können.

Queen Elizabeth II. wird von Judy Kaye sehr souverän und dezent gespielt. Die Queen weiß, was sie will und was inakzeptabel ist und macht ihren Standpunkt klar („She Moves in the Most Modern Way“). Kaye überzeugt als strenge Königin, die aber auch Gefühle zeigen kann („An officer’s wife“). Als Barbara Cartland ist Kaye das genaue Gegenteil: Nicht nur optisch kreischend bunt, hat sie keine Scheu schlüpfrige Dialoge glaubwürdig zum Besten zu geben. Diese Wandlungsfähigkeit ist wunderbar mitzuerleben.

Lady Dianas Butler Paul Burrel wird von Antony Murphy gespielt. Er steht Diana nicht nur mit Rat und Tat zur Seite, sondern sagt ihr auch ehrlich seine Meinung und überzeugt sie, für sich und ihre Ziele einzustehen. „The Dress“ ist hierfür das beste Beispiel, denn er ist es (zumindest im Musical), der Diana zuredet, dass Interview von Charles durch einen eigenen Auftritt zu torpedieren.

Gareth Keegan übernimmt den Part des Reitlehrers James Hewitt. Er ist nicht so schneidig, wie man sich den Klischee-Liebhaber einer Prinzessin gemeinhin vorstellt, doch man nimmt ihm ab, dass James Diana mehr als nur gemocht hat. Dass er seine Karriere über die Beziehung zu Diana stellt und sie damit sehr verletzt, wird in „Just Dance“ mehr als deutlich. Aber so plötzlich wie Hewitt aufgetaucht ist und schnell verschwindet er auch wieder.

Man kann durchaus nachvollziehen, warum viele diese Show nicht mögen und ihr am Broadway kein Erfolg beschieden war: Diana wird sehr berechnet dargestellt, Charles ist die Marionette von Camilla und die Queen weiß jedes Detail, aber greift viel zu spät ein. Doch wer weiß schon genau, wie es im Hause Windsor zugeht? Oberflächlich betrachtet, scheinen die dargestellten Handlungsweisen sehr nachvollziehbar. Und mehr als „von außen“ können die wenigsten beurteilen, wie es vor 25 Jahren im Buckingham Palace zugegangen ist.

Insofern gestehe ich Joe DiPietro seine Sichtweise, die eine selbstbewusste und zwangsläufig taktierende Diana einschließt, gern zu. Denn vieles funktioniert in dieser Show sehr gut und lässt sie am Ende ähnlich unterschätzt dastehen wie ihre Protagonistin.

Michaela Flint

Theater: Longacre Theatre, New York
Stream auf Netflix: seit 1. Oktober 2021
Darsteller: Jeanna de Waal, Erin Davie, Roe Hartrampf, Judy Kaye, Antony Murphy, Gareth Keegan
Regie / Musik: Christopher Ashley / David Bryan
Fotos: Evan Zimmermann / Matthew Murphy