home 2006 Im Stadttheater sterben die Studenten noch selbst

Im Stadttheater sterben die Studenten noch selbst

Im Gegensatz zu den großen Ensuite-Produktionen der revoltierenden Studenten ist die Lüneburger Inszenierung wesentlich bodenständiger. Die Requisiten wurden auf das allernotwendigste (Fahne, Kerzenleuchter usw.) beschränkt. Während in Berlin zahlreiche Stoffpuppen die Toten auf den Barrikaden „darstellten“, liegen die Schauspieler in Lüneburg nach der entscheidenden Schlacht selbst in den zur Barrikade aufgetürmten Möbelstücken. Auch wenn dem ein oder anderen die aus der sonst üblichen Drehbühne und der motorisierten Mega-Barrikade abgeleiteten Effekte fehlen (mal ehrlich: Wer in einem Stadttheater derartige technische Effekte erwartet, ist dort sowieso falsch.), so rückt die Inszenierung von Helga Wolf das in den Mittelpunkt, was zählt: die Lebensgeschichte von Jean Valjean, die untrennbar mit den Folgen der französischen Revolution und den Klassenkämpfen verbunden ist. Ohne das technische Brimborium werden die Menschen auf der Bühne um ein Vielfaches bedeutsamer, man legt mehr Augenmerk auf die Ausarbeitung und Schlüssigkeit der Charaktere und auch die Kompositionen von Boublil/Schönberg bekommen automatisch mehr Gewicht. Das Revolutions-Musical gewinnt durch diese Schwerpunktverschiebung an Tiefe und Relevanz und wird so den tragischen Schicksalen dunkler Weltgeschichte nur umso gerechter.

Wer „Les Misérables“ kennt, weiß, dass dieses Musical ein Ensemble-Stück ist – es lebt von Massenszenen wie den Studenten im ABC-Café, den Huren auf der Straße, den Fabrikarbeitern usw. Beim Betreten des Saals fragt man sich daher unweigerlich, wo diese 30-40 Personen auf der kleinen Stadttheaterbühne Platz finden sollen ohne eine optische Überbevölkerung hervorzurufen. Regisseurin Helga Wolf spielt hier ihren Heimvorteil aus. Mit „Evita“ und „Jesus Christ Superstar“ hat sie in den vergangenen Jahren bereits eindrucksvoll unter Beweis gestellt, was man aus einem Stadttheater alles herausholen kann. Und so funktioniert das Zusammenspiel von Ensemble und den wenigen Großkulissen sehr harmonisch und führt zu schönen Gruppenszenen.

Wenn wir schon bei der Optik sind: Das Bühnenbild von Barbara Bloch und die von ihre kreierten Brückenbögen helfen, die verschiedenen Szenen mal mehr mal weniger deutlich voneinander abzugrenzen. Sie lassen Raum für ungewöhnliche Auftritte und machen die Inszenierung besonders. An einigen Stellen fragt man sich jedoch, ob der Einsatz dieser Brückenbögen so glücklich ist, bspw. wenn Marius zum Grundstück von Valjean und Cosette kommt und sich die beiden Liebenden in einer vertauschten Romeo & Julia Szene (Marius steht die ganze Zeit in 2 Meter Höhe über seiner Cosette, die wie ein aufgescheuchtes Huhn am Boden herumläuft) ihre Sympathie gestehen. Diese an sich sehr romantische Szene verpufft durch diese Anordnung von Schauspielern und Kulissen komplett.

Ein wenig kritisch kann man auch die Kostüme von Sabine Meinhardt erwähnen. Die in der ursprünglichen Inszenierung angedachten Farbwelten der Ensemblekostüme, die einzelne Szenen und Klassen betonen sollen (siehe Backstage-Bericht aus Berlin), wurden in Lüneburg komplett ignoriert. Bei vielen Schnitten wurde auf zu aktuelle Modelle zurückgegriffen, was dem Ganzen phasenweise den Touch eines Fundus-Patchworks verleiht. Das ist schade und passt auch so gar nicht zu den ansonsten sehr bewusst eingesetzten Stilmitteln dieser Produktion.

Genug vom Drumherum, kommen wir zu den Menschen, die ganz klar im Fokus von Helga Wolfs Inszenierung stehen. Das Lüneburger Ensemble wurde für die Musicalpremiere dieser Spielzeit durch einige Gäste verstärkt. Allen voran Aleksander di Capri, der in der Rolle des Jean Vealjean ein Wiedersehen der besonderen Art feiert: Bereits vor 10 Jahren stand er in der Duisburger Inszenierung von „Les Misérables“ u. a. als Enjolras und Marius auf der Bühne. Nun konnte er sich mit der Hauptrolle einen großen Traum erfüllen. Schon in früheren Interviews nannte er Jean Valjean ganz klar als eins seiner beruflichen Ziele (siehe Interview).

Aleksander di Capri verleiht dem gebrochenen Mann Valjean einer unterschwellige Kraft und Intensität, die von der Eröffnungsszene bis zum Finale zu spüren ist. Sowohl schauspielerisch als auch gesanglich eifert er keinem seiner zahlreichen Vorgänger nach, sondern setzt seine eigenen Akzente. So wird aus „Bring ihn heim“ statt einer flehentlich verzweifelten Bitte ein Beweis von Valjeans Willensstärke. Im Zusammenspiel mit seinen Kollegen wird deutlich, dass sich Aleksander di Capri stark mit seiner Rolle auseinandergesetzt hat, was sein Schauspiel ungleich viel glaubwürdiger macht. Gleiches trifft auch auf Stephanie Sturm, Valerie Link und Petra Weidenbach zu, die ihre Rollen auf der Bühne „leben“ und nicht nur singen.

Damit kommt man zum größten Knackpunkt dieser Inszenierung: Das Lüneburger Ensemble wirkt phasenweise unmotiviert und verliert den Kontakt zu seinen Rollen. Vor dem Hintergrund, dass „Les Misérables“ für viele nur eins von mehreren Stücken in dieser Spielzeit ist und auch nicht jeden Tag gespielt wird, mag das nachvollziehbar sein, aber für die Energie des Stücks tödlich. Die Elenden, die nicht elend, sondern ferngesteuert und indifferent scheinen, studentische Aufrührer, die nicht anstacheln, sondern mäßig motiviert den intensivsten Song des Stücks „heruntersingen“, wirken genauso fehl am Platz wie die Wirtsleute Thénardier (Kirsten Platt und Uwe Salzmann), die das Potential ihrer Rollen überhaupt nicht erkennen. Zumindest Uwe Salzmann singt sich gut durch seine Partie, aber die komisch-tolpatschige Bösartigkeit des Wirts fehlt ihm leider vollkommen. Ganz zu schweigen von einer aggressiv-polternden Mme. Thénardier, die kleine Kinder einschüchtert und die Fäden hinter ihrem Mann zusammenhält. Eine solche Matrone sucht man in Lüneburg vergebens.

Das positive Highlight aus dem Lüneburger Ensemble ist ganz eindeutig Ulrich Kratz als Inspektor Javert. Er steht seinen musicalerfahrenen Kollegen in nichts nach. Man nimmt ihm den vom Wahn besessenen Polizisten in jeder Minute ab und auch gesanglich meistert er die Rolle einwandfrei. Wenn Kratz und di Capri sich gegenüberstehen, bekommt keiner die Übermacht über den anderen, was für die Qualität der beiden Protagonisten spricht.

Qualitativ hochwertige Interpretationen ihrer Alter Egos liefern auch die Damen ab: Petra Weidenbach rührt als verzweifelte, von Krankheit und Sorge zerfressene Fantine zu Tränen, Valerie Link verleiht der braven Cosette wesentlich mehr Charakter und macht die schauspielerisch sonst eher vernachlässigte Rolle zu einer wirklichen Hauptrolle. Ihr lupenreiner Sopran ist ein wahrer Genuss und die Lebensfreude, die ihr in den Szenen mit Kristian Lucas (Marius) ins Gesicht geschrieben steht, entschädigen für vieles.

Die unglückliche Eponine wurde mit Stephanie Sturm ebenfalls mit jemandem besetzt, der über Musicalerfahrung verfügt. Dass sie sich mit ihrer burschikosen Rolle wohl fühlt, merkt man besonders, wenn sie hoffnungslos verliebt, aber dennoch ganz allein, auf der Bühne steht und ihrem Kummer mit „Nur für mich“ ergreifend Platz macht.

Wie das Beispiel Lüneburg beweist, funktioniert „Les Misérables“ prinzipiell auch ohne Drehbühne und turmhohe Kulissen. Doch essentiell für den Genuss dieses inhaltlich und musikalisch anspruchsvollen und emotional intensiven Werks sind Künstler auf der Bühne, die diesen Anforderungen gerecht werden. Das war bei den Gästen durchweg der Fall, doch „Les Misérables“ lebt eben nicht nur von sechs großartigen Protagonisten, sondern auch und vor allem von den starken Ensemblenummern, die in Lüneburg leider keine Tragfähigkeit entwickeln können.

Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical

Theater: Theater Lüneburg
Premiere: 2006
Darsteller: Alexander di Capri, Valerie Link, Ulrich Kratz, Stephnie Sturm, Petra Weidenbach
Musik / Regie: Alain Boublil / Helga Wolf
Fotos: Theater Lüneburg