home 2013 Ein Ausflug in die Welt des 80er Jahre Musicals

Ein Ausflug in die Welt des 80er Jahre Musicals

Knapp zwölfeinhalb Jahre nachdem in Hamburg der letzte Vorhang für Andrew Lloyd Webbers ‘Das Phantom der Oper’ gefallen ist, erlebte das wohl klassischste aller Musicals am 28. November 2013 seine Wiederaufnahme in der Neuen Flora – dem Theater, das seinerzeit unter lautstarkem und pressewirksamem Protest eigens für dieses Stück gebaut wurde.

Man kann darüber streiten, ob nur sechs Jahre nach der letzten Stage Entertainment Produktion in Essen das Phantom seine Katakomben in Hamburg erneut beziehen muss und nicht inzwischen wirklich ganz Deutschland dieses Musical gesehen hat. Aber glaubt man den Gerüchten, handelt es sich bei der mit zehn Monaten recht kurz bemessenen Spielzeit nur um den Auftakt zur Deutschland-Premiere des Sequels ‘Love Never Dies’. So betrachtet, ist es natürlich clever, dem Publikum nochmals die Pariser Zeit von Christine, Raoul und dem Phantom zu zeigen, bevor man im Winter 2014 gemeinsam nach New York aufbricht und erlebt, was zehn Jahre nach dem Kronleuchter-Sturz aus den drei Protagonisten geworden ist.

Beim Betreten des Theatersaals sieht auf den ersten Blick alles aus wie früher. Lediglich das Bühnenportal wirkt etwas schmaler und die unzähligen, einen Sternenhimmel darstellenden Glühbirnen links und rechts der Stuhlreihen sind abgehängt. Der Zuschauer fühlt sich aber sofort wieder in die Pariser Oper versetzt: goldene Büsten umrahmen die Bühne und ein schwerer roter Samtvorhang macht neugierig auf das Geschehen dahinter.

Die Auktion zu Beginn des Stücks wartet mit keinerlei Überraschungen auf. Doch als das Orchester bei der Illumination des Kronleuchters zum ersten Mal in voller Pracht erklingt, zuckt man unweigerlich zusammen. Irgendwie klingt es anders, nicht so druckvoll wie früher. Laut Stage Entertainment hat Andrew Lloyd Webber sein Musical für die Hamburger Inszenierung neu orchestriert. Statt wie früher 29 sitzen jetzt nur noch 14 Musiker im Orchestergraben. Dass diese Reduzierung der Live-Musiker um die Hälfte Auswirkungen auf den Klang haben muss, leuchtet ein. Selbst wenn die fehlenden Instrumente virtuell mit Keyboards ergänzt werden, bekommt man den Eindruck, die weltbekannten Melodien würden mit halber Kraft gespielt.

Wenn man sich dazu in Erinnerung ruft, dass die Gewerkschaft Verdi aufmerksamkeitsstark vor dem Theater mit einer Brass Band gegen den Ersatz von Live-Musikern durch Technologie demonstriert hat, drängt sich der Gedanke auf, dass es sich hier keineswegs um eine Neu-Orchestrierung durch den Komponisten handelt, sondern um eine strategische Entscheidung des Musical-Multis, die dieser im übrigen auch bei ‘Tarzan’ in Stuttgart (10 statt 17 Musiker) sowie ‘Sister Act’ in Oberhausen (8 statt 15 Musiker) umgesetzt hat.

Zuschauer, die das von der Stage Entertainment angekündigte “Original zurück in Hamburg” erwarten, dürfen daher zurecht enttäuscht sein. Zumal die Ticketpreise dieser deutlichen Verkleinerung des künstlerischen Personals keineswegs folgen, sondern konstant auf sehr hohem Niveau bleiben: Inklusive aller Gebühren zahlt der Zuschauer für ein ‘Phantom’-Ticket in der 1. Preiskategorie an einem Samstagabend mehr als 150 Euro.

Eine weitere Entscheidung, die leicht verstörend wirken kann, ist die Internationalität des Ensembles. Die 41 Ensemblemitglieder kommen aus 14 verschiedenen Ländern. So sehr Arthur Masella (Associate Director) die Frische der neuen Generation auch lobt, so bedauerlich ist es, dass man Meg Giry, den Auktionator oder Monsieur André teilweise ob ihres ausgeprägten Akzents kaum verstehen kann. Wir haben unzählige junge Musicaldarsteller im eigenen Land, durch deren Engagement diese unschöne Nebenwirkung hätte vermieden werden können. Da muss die Frage gestattet sein, wieso man auf fremdsprachige Talente setzt, deren phonetische Fähigkeiten für eine deutschsprachige Produktion nicht ausreichen.

Bei der Inszenierung hingegen kann sich das Publikum auf Altbewährtes freuen. Es hat sich nichts geändert: Die Gesten sind ausladend, die Mimik ist unbestreitbar eindeutig und die Charaktere agieren vollkommen erwartungsgemäß. Regisseur Harold Prince betont, dass es sich beim ‘Phantom der Oper’ nicht um eines der Musicals handelt, das angepasst werden muss. Daher geistert das Phantom seit mehr als 25 Jahren absolut unverändert über die Bühnen dieser Welt. Doch auch dem „Phantom der Oper“ Trotzdem würde der Show eine Verjüngungskur sicherlich gut zu Gesicht stehen, denn sie Die ganze Show ist so spürbar im Stil der 80er-Jahre inszeniert, dass es manchmal schon unfreiwillig komisch wirkt, wenn Christine ihre Arme gen Himmel reckt oder das Phantom über alle Maßen theatralisch leidet. Durch eine gezieltere, modernere Personenregie würde dieser Musical-Klassiker auch heute noch einen Platz in den ersten Reihen der Beliebtheitslisten innehaben und sich nicht Stücken wie ‘Wicked’ geschlagen geben müssen. Ein Paradebeispiel, wie man ein 80er-Jahre Musical auch für heutige Generationen spannend gestalten kann, ist ‘Starlight Express’ in Bochum. Durch eine veränderte Bühne, neue Songs, neues Staging ist das Stück immer weiter gereift und sicherlich auch deshalb Deutschlands am längsten gespieltes Musical.

Es hängt also wieder einmal wie so oft an den Darstellern. Können sie das Publikum für sich gewinnen? Überzeugen sie mit ihrem Schauspiel und Gesang? Rühren sie die Zuschauer vielleicht sogar zu Tränen?

Valerie Link wurde als Christine Daaé engagiert. Sie profitierte sicherlich davon, dass sie von der ersten deutschen Christine, Anna Maria Kaufmann, gecoacht wurde. Denn wer, wenn nicht Kaufmann, weiß, wie sich Christine fühlt?

Link verleiht dem Ballettmädchen mit Gesangsambitionen eine erfrischend selbstbewusste, erwachsene Note. Christine ist nicht mehr das naive Mäuschen, sondern zeigt Durchsetzungsstärke und kann sich gegenüber den beiden Männern, die um ihre Liebe buhlen, behaupten. Auch stimmlich wirkt Christine dank Links gelungener Intonation gereifter, was ihr sehr gut zu Gesicht steht. Ihrem klaren Sopran zu lauschen, ist eine Freude. Ihr “Könntest Du doch wieder bei mir sein” ist sehr intensiv und sorgt für Gänsehaut. Bedauerlich ist, dass beispielsweise bei “Engel der Muse” der Gesang der Protagonisten teilweise stark vom Orchester überlagert wird. Dadurch verliert nicht nur diese wesentliche Szene deutlich an Wirkung.

Stimmlich ist Mathias Edenborn als Phantom die perfekte Ergänzung zu Valerie Link. Die Duette vom Phantom und Christine sind wunderbar harmonisch, beide lassen sich genug Raum zur Entfaltung. Auch energische oder schwache Partien setzen beide stimmlich ideal um.

Schauspielerisch muss Edenborn noch in seine neue Rolle hineinwachsen. Er hat ganz starke Momente, insbesondere wenn er auf dem Engel kauernd das Eheversprechen von Christine und Raoul (“Mehr will ich nicht von Dir”) miterleben muss. Das Publikum bekommt unweigerlich Mitleid mit ihm. Auch das Finale und die Auseinandersetzung mit Raoul und Christine gelingen ihm exzellent. Dazwischen fehlt es ihm noch zu häufig an dem gewissen Etwas und er lässt es an der Stärke vermissen, die das Phantom auszeichnet. Dies wird sich aber mit etwas Routine sicherlich legen.

Die undankbarste Rolle der drei Hauptfiguren hat Nicky Wuchinger als Raoul, Vicomte de Chagny. Sich merklich gegen das Phantom und Christine durchzusetzen, gelingt den wenigsten Darstellern, die diese Rolle übernehmen. Auch Wuchinger kämpft hier einen aussichtslosen Kampf. Sein warmer, vielseitiger Tenor kommt kaum zur Geltung und dass Raoul durchaus seinen Mann stehen kann, kommt lediglich in der Szene zum Vorschein, in der er im Direktorenbüro dem Phantom den Krieg erklärt (“Briefe”).

Zudem hat auch er darunter zu leiden, dass das Orchester so manchen Gesang übertönt.

Rachel Anne Moore muss sich solchen Problemen als Primadonna Carlotta naturgemäß nicht stellen. Die erstaunlich junge und im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen sehr schlanke Sängerin wirkt am Anfang noch etwas schüchtern. Sie singt ihre Arien zwar lupenrein und ist auch wunderbar zickig, aber wirklich überzeugend ist sie erst im zweiten Akt. Carlottas Operndirektoren Monsieur Firmin und Monsieur André (Anton Rattinger und Guido Gottenbos) sorgen für die tolpatschigen, lustigen Momente. Vielleicht liegt es daran, dass man ‘Das Phantom der Oper’ schon unzählige Male gehört hat, aber zum ersten Mal kann man jedes Wort ihrer sehr schnellen Schlagabtausch-Duette verstehen.

Das Ballett zaubert den Zuschauern auch in der vierten deutschen Großproduktion ein Lächeln ins Gesicht und sorgt für etwas Auflockerung der tragischen Handlung. Darüber hinaus besticht das Stück durch opulente Kostüme, weltbekannte Bühnenbilder wie den Maskenball, den Opern-See und natürlich den Kronleuchter, der mit einer erfreulich hohen Geschwindigkeit auf die Bühne hinabrauscht. Es mag daran liegen, dass man im Musicalfach schon viel gesehen hat, aber die Tricks, die in den 80er-Jahren Staunen ausgelöst haben, etwa das Phantom, das hinter Christines Garderobenspiegel auftaucht oder der rote Tod, der sich nach dem Maskenball in Luft auflöst, haben ihre Magie verloren und wirken beinahe altmodisch.

Alles in allem hält ‘Das Phantom der Oper’ in der Hamburger Neuen Flora keine Überraschungen bereit. Inszenatorisch wäre sicherlich der ein oder andere moderne Kunstgriff wünschenswert gewesen. Musikalisch ist es zudem etwas gewöhnungsbedürftig. Wenn man keine Vergleichsmöglichkeiten hat, dürfte Letzteres aber kaum ins Gewicht fallen.

Man kann nur hoffen, dass dieser Rückgriff auf alte Bewährtes eine Ausnahme bleibt und die Stage Entertainment das Publikum nach dem ‘Phantom der Oper’ wieder mit neuen, kreativen Musicals bedient.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Neue Flora, Hamburg
Premiere: 8. Juli 2016
Darsteller: Mathias Edenborn, Valerie Link, Nicky Wuchinger
Musik / Regie:  Andrew Lloyd Webber / Harold Prince
Fotos: Stage Entertainment