home 2016 Maximale Unterhaltung mit minimalem Budget – großartig!

Maximale Unterhaltung mit minimalem Budget – großartig!

Klein, aber fein. Genau das kann sich das Team der Broadway Entertainment auf die Fahne schreiben. Mit minimalem monetären Einsatz ein maximal unterhaltsames Musical auf die Beine zu stellen, haben schon viele versucht. In Roßdorf gelingt dies mit „Dracula“ auch in diesem Sommer ganz vorzüglich.

Zum Auftakt werden die knapp 500 Zuschauer in den historischen Kontext von Graf Dracula gebracht: Ein kurzer Zeichentrickfilm zeigt Elisabeta, die der falschen Nachricht der Feinde glaubt, dass ihr Verlobter Vlad gefallen sei, und sich in ihrer Verzweiflung aus dem Fenster stürzt. Ihre Seele ist fortan verdammt. Als Vlad vom Schlachtfeld heimeilt und seine Verlobte tot vorfindet, sinnt er auf Rache.

Die nächste Szene zeigt Jonathan Harkers Reise von London nach Transsylvanien. Dabei werden immer wieder Ausschnitte aus seinen Briefen an seine Verlobte Mina eingeblendet. Die Schlosskulisse, in der sich diese Handlung abspielt, ist sehr gut gelungen. Die Videoinstallationen in den drei Fenstern des Schlosses bei Jonathans Kutschfahrt und die Reise durch den Winterwald, der in den Fenstern links und rechts an der Kutsche vorbeizieht, ist technisch auf sehr hohem Niveau (Technische Leitung: Fabian Schmid).

Die erste Begegnung von Dracula und Jonathan erinnert nicht nur wegen der Kostüme sehr stark an den Hollywood-Film von Bram Stoker. Dracula trägt eine etwas seltsam anmutende Halbgesichtsmaske, aber Benedikt Vogel hat die richtige Intensität und ein gutes Gespür für eine ausdrucksstarke Mimik. Dass er nicht jeden Ton trifft, setzt sich im Laufe der Show fort, mindert aber nicht den guten Gesamteindruck der Produktion.

Jonathan Harker wird gespielt von Matheo Radeck. Er hat eine schön softe Stimme, die hervorragend zur weichen Ausstrahlung des Forschers passt. Pamina Lenn, die zusammen mit Tilmann Rose auch für die Regie verantwortlich zeichnet, gibt seine Verlobte Mina. Ihr sehr ausgeprägtes Vibrato lässt sich nicht ignorieren und wirkt sich im Verlauf des Abends auf viele Songs sehr nachteilig aus. „Lass mich dich nicht lieben“ ist dafür ein gutes Beispiel: Auch wenn Frank Wildhorns Songs durchaus viel Raum für Belten und Vibrato lassen, Lenn bietet von beidem zu viel. Auch wenn sie Dracula „ruft“ („Wäre ich frei“), überstrahlt ihr Vibrato alles, doch es wird klar, dass sie sehr wohl sauber und klar singen kann, ohne in diese oft unangenehme Gesangsart zu verfallen.

Als Dracula Jonathan zum ersten Mal beißt, wird auf dem halbdurchsichtigen Vorhang vor der Szene die Verwandlung vom alten grauhaarigen Vampir zum jungen Graf Vlad gezeigt. Eine sehr gelungene Idee! In der nächsten Szene kommt Dracula dann als junger Mann auf die Bühne. Die graue Langhaarperücke, der rote Mantel und die Halbmaske sind passé.

Ein weiteres technisches Schmankerl ist der „Aufbau“ von Whitby Bay, dem Sommerkurort, an dem Dracula zum ersten Mal auf Mina und Lucy trifft: Das Gebäude entwickelt sich im mittleren Fenster der Schlosskulisse von einer Bleistiftzeichnung hin zu einem farbenfrohen Porträt. Klasse! Durch zwei zusätzliche Wandelemente wird aus dem Schloss der Ballsaal von Whitby Bay.

Renfield (gespielt von Johannes Kahlhöfer) ist in dieser Inszenierung ein sympathischer, fast schon zerbrechlicher Wahnsinniger. Kahlhöfer singt gut und meistert die Gratwanderung zwischen Wahn und Klarheit sehr glaubhaft.

Helena Lenn ist eine stimmgewaltige Lucy Westenra, die mit viel Charme alle Männer um den Finger wickelt. Die Wandlung von der unentschlossenen, verspielten Braut zur lüsternen Vampirlady gelingt ihr hervorragend. Helena Lenns Soli gehören zu den Highlights des Abends, da sie die verschiedenen Emotionen sehr gut in Gesang umsetzen kann. Auch ihre ausdrucksstarke Mimik sorgt für ein rundum gelungenes Rollenprofil. Ein Paradebeispiel, bei dem sie all ihre Talente ausspielen kann, ist „Wie wählt man aus“. Ihr Hin- und Hergerissensein zwischen den drei potentiellen Ehemännern ist deutlich spürbar.

Auch Pamina Lenn hat ihre Stärken im Spiel. Mimik und Gestik sind sehr gut. Einzig die Tontechnik zerstört mit zuviel Hall viele Dialoge. Allzu oft klingen Lenn und ihre Kollegen so als würden sie in einer Kirche stehen.

Gesanglich harmoniert sie mit Vogel leider nicht so sehr wie mit Radeck, was insbesondere bei „Ich leb‘ nur, weil es Dich gibt“ deutlich wird.

Van Helsing erinnert mehr als vage an Indiana Jones. „Nosferatu“ klingt zwar nicht schlecht, aber im Großen und Ganzen versucht Michael Zimmermann durch Lautstärke zu kompensieren, dass er dem Showstopper nicht ganz gewachsen ist. Doch mit seinem ausgeprägten Dialekt sorgt er für Lacher und macht die Figur des besessenen Vampirjägers sehr sympathisch.

Der Song, bei dem Van Helsing und Lucys Verehrer zur Jagd auf Dracula aufbrechen, hat eine sehr gute Energie. Allerdings ist es hier mit dem Choreographen durchgegangen, denn die Platzierung der Darsteller und die Schrittfolgen erinnern doch allzu arg an „One Day More“ aus „Les Misérables“.

Was insgesamt auffällt ist, dass dieses Vampirmusical komplett unblutig ist. Es fließt kein Tropfen (Theater-)Blut, auch wenn die Vampire mit ziemlich scharfen Beißerchen daherkommen. Dennoch ist die Inszenierung absolut schlüssig und die wenigen zu langen Umbaupausen oder zu lauten Abgänge nimmt man gern in Kauf. Die Cast kann ihre Stärke insbesondere in den Duetten und Ensemble-Nummern ausspielen. Solistisch zeigen sich viele Schwächen, doch die liebevolle Umsetzung der Details auf der Bühne, in den Kostümen (Sigrid Vogel) und natürlich auch Regieseitig macht dieses Manko wett.

Begeisterten Applaus erntet auch das 20-köpfige Orchester unter der Leitung von Jan Brell. Die Musiker spielen die komplexe Partitur fehlerfrei und mit viel Schwung. Ist es nicht genau das, was Musical ausmacht? Ein energiegeladenes Ensemble und nicht minder engagierte Musiker?

Roßdorf hat einen festen Platz im hessischen Musicalkalender, dafür ist „Dracula“ einmal mehr der Beweis. Einen Vergleich mit großen Stadttheater- oder Ensuite-Produktionen müssen die Macher insbesondere im Hinblick auf Technik und Regie nicht scheuen. Vogels Hinweis darauf, dass alle Beteiligten ihre Zeit und ihr Können unentgeltlich zur Verfügung stellen, um diese sieben Aufführungen zu ermöglichen, wird vom Publikum sehr honoriert – und dass nicht nur mit langem Applaus, sondern auch mit großzügigen Spenden, die nach der Vorstellung in die Boxen der am Ausgang wartenden Darsteller wandern.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Rehberghalle, Roßdorf
Besuchte Vorstellung: 1. September 2016
Darsteller: Benedikt Vogel, Pamina Lenn, Matheo Radeck, Helena Lenn, Michael Zimmermann, Johannes Kahlhöfer
Musik / Regie:  Frank Wildhorn / Pamina Lenn & Tilmann Rose
Fotos: Peter Harbauer