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Swan Lake Reloaded

Gute 80 Minuten – länger braucht Regisseur Fredrik Rydman nicht, um seine energiegeladene Interpretation von Tschaikowskys weltbekanntem Ballett „Schwanensee“ zu präsentieren.

Der schwedische Choreograph hat fast zwei Jahre an seiner Vision von Odette, Siegfried und Rotbart gearbeitet, bevor „Swan Lake Reloaded“ im Dezember 2011 in Stockholm Weltpremiere feierte. In diesem Jahr schickt Semmel Concerts das skandinavische Tanzensemble nun auf Tour durch Österreich und Deutschland.

Wer so wie ich eigentlich keine Ahnung hat, wovon „Schwanensee“ handelt und dessen Kenntnisse höchstens auf dem Hollywood-Streifen „Black Swan“ beruhen, fühlt sich bei dieser termporeichen, kurzweiligen Produktion sehr gut aufgehoben.

Auch bei „Swan Lake Reloaded“ soll sich der junge Prinz Siegfried (Robert Malmborg) nach dem Willen seiner Mutter (Gabriella Kaiser) möglichst bald vermählen. Dieser verliebt sich jedoch bei einem seiner nächtlichen Streifzüge in die schöne, hilfsbedürftige Odette (Maria Andersson). Als tags darauf der Ball anlässlich der Brautschau stattfindet, erliegt Siegfried den Reizen der dunklen, geheimnisvollen Odile (Rim Shawki), die vom bösen Baron Rotbart (Daniel Koivunen) auf ihn angesetzt wurde.

Fast zu spät erkennt Siegfried den Schwindel, sucht und findet seine Odette. Doch er kann sie nicht mehr retten. Rotbart tötet sie und Siegfried bleibt nichts als der Rückzug in seine unermessliche Trauer.

Schon das Opening zeigt, dass wir uns nicht in einem historischen Umfeld bewegen, sondern im Hier und Jetzt. Rotbart ist ein Zuhälter und Dealer. Sein Eröffnungstanz hinter dem halbtransparenten Videovorhang, auf den übergroße App-Symbole und Handymenüs projiziert werden, gelingt sehr effektvoll.

Folgerichtig repräsentieren Rotbarts Prostituierte die Schwäne. Den Grund liefert Rydman im Interview: „ Oft werden ja Schwäne als Symbol für Prostituierte verwendet. (…) Und nach und nach wurden mir die Parallelen klar: Drogenabhängigkeit und Prostitution gehen oft einher und Drogen sind ja ganz deutlich der Zauber, mit dessen Hilfe Rotbart die Mädchen in Schwäne verwandelt und unter seinen Bann stellt.“ Und so macht Rotbart die Lackstiefel und weiße Pelzjacken gewandeten Mädchen mit Heroin gefügig.

Drogen spielen aber auch in Siegfrieds Leben eine nicht unwesentliche Rolle. Die erlebt der Zuschauer auf der Party anlässlich seines 21. Geburtstags, auf dem von den Gästen recht freizügig Kokain konsumiert wird. Die Kostüme der Tänzerinnen als Lampe, Kerzenhalter und Sofa zeugen von einer großen Kreativität (Lehna Edwall) und spiegeln optisch das wider, was vor allem die Tänzer in dieser Szene an unangepasstem HipHop, Streetdance zum besten geben. Ein Highlight setzt Fredrik „KAOS“ Wentzel, der als Zauberer alle Gäste in ihren Bann zieht und mit seinen halsbrecherischen Breakdance-Einlagen reichlich Szenenapplaus erntet.

Der Szenenwechsel vom königlichen Schloss zu den dunklen Gassen im Rotlichtmilieu wirkt cool und lässig. Er wird einfach in die Choreographie integriert. Auch hierfür zeichnet Regisseur Fredrik Rydman gemeinsam mit Lehna Edwall verantwortlich.

Die Schwäne tauchen als Huren hinter stilisierten Schaufenstern auf und locken die jungen, unerfahrenen Männern an. Siegfrieds Herz entflammt als er merkt, dass einem der Schwäne, Odette, nicht gut zu gehen scheint. Er versucht ihr während ihrer Entzugserscheinungen beizustehen. Der gewählte Song „Become someone else“ unterstreicht die beklemmende Intensität dieser Szene perfekt. Zarte Bande der Zuneigung werden geknüpft – bis Rotbart die beiden auseinander reißt.

Während die anderen Schwäne von Rotbart gegen Abgabe ihrer Einnahmen ihre Ration Heroin bekommen, muss Odette durch einen kalten Entzug. Die zunächst leiernde, dann angestrengt scheppernde Musik erinnert an einen Systemfehler – ein musikalisches Bild, das sehr gut zu den Schmerzen passt, die Odette ertragen muss. Das folgende, weltberühmte „Allegro Moderato“ („Der Tanz der vier kleinen Schwäne“) inszeniert Rydman gekonnt anders: Die Schwäne tanzen die Choreographie zunächst liegend – das Publikum sieht nur die wackelnden Füße und sich bewegende Arme – um dann im Stehen die vermutlich klassischste Ballettfolge im lockeren, jazzigen Streetdancestyle zu Ende zu bringen.

Die Brautschau auf dem Ball verpackt Rydman in eine Modenschau der außergewöhnlichen Art: Ungewöhnliche Choreographien und nicht minder schräge Brautkleider sorgen für Erheiterung. Rotbart taucht mit Odile auf und zieht alle Ballgäste mit seinem „weißem Staub“ in seinen Bann. So geblendet, kann Siegfried der sexy gekleideten, lasziv tanzenden Odile nicht widerstehen. Die Choreographie zur Verlobung vom „schwarzen Schwan“ Odile und Siegfried ist atemberaubend mitreißend.

Es folgt ein weiterer beeindruckender Bühnenbildwechsel, der Siegfrieds Suche nach Odette begleitet. Die Bühne ist schließlich komplett nackt – das Publikum sieht nur eine Scheinwerferreihe im Hintergrund, ansonsten sind die kahlen Wände der Seitenbühne und die Züge mit Scheinwerfern  das einzige, was es zu sehen gibt.

Der Kampf von Rotbart und Siegfried um den „weißen Schwan“ Odette ist vor dieser Kulisse noch purer und lenkt den Fokus unweigerlich auf die schnellen, kraftvollen Choreographien Rydmans.

Schließlich verschleppt Rotbart Odette hinter eine Wand, vergewaltigt sie und bringt sie um. Siegfried steht im Regen weißer Federn und kann seine Geliebte nicht mehr retten. Er schleift die blutende Odette von der Bühne und zurück bleibt ein Meer aus weißen Federn, in denen Rotbart seine Geschäfte mit Huren und Drogen fortsetzt als sei nichts geschehen.

Man muss schon aufpassen, dass man bei dieser riskanten Vollgasfahrt durch Tschaikowskys Meisterwerk nicht aus der Bahn fliegt, denn die Choreographien sind ungemein schnell, ungewöhnlich, abwechslungs-reich und strotzen nur so vor Kraft und Energie.

Dass die Handlung hierbei nicht zu kurz kommt und man die Gefühle von Siegfried, die Schmerzen von Odette und die Hinterlistigkeit von Rotbart sehr eindrucksvoll nachvollziehen kann, ist Fredrik Rydmans Einfühlungsvermögen zu verdanken. Er weiß genau, wie man tänzerisch eine komplexe Geschichte erzählt, ohne dabei zu große inhaltliche Abstriche machen zu müssen.

Das nur 10-köpfige – oder besser 20-füßige – Ensemble bekommt reichlich Anerkennung für seine fulminante Leistung. Ein so hohes Tempo über 80 Minuten ohne Pause durchgehend zu halten, zollt nicht nur jedem Freizeittänzer Respekt ab. Da verzeiht man auch gern, dass der weiße und schwarze Schwan, Odette und Odile, nicht wie in anderen Inszenierungen üblich von einer, sondern von zwei Tänzerinnen dargestellt werden.

Solche mutigen Shows braucht die Theaterwelt. „Schwanensee“ ist alt, klassisch und langweilig? Mitnichten! „Swan Lake Reloaded“ beweist eindrucksvoll das Gegenteil!

Michaela Flint

Theater: Thalia Theater, Hamburg
Besuchte Vorstelung: 17. Juli 2013
Darsteller: Maria Andersson, Robert Malmborg, Dabiel Koivunen, Fredrik Wentzel
Fotos: Mats Baecker / Semmel Concerts