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Lord of the Rings

Mit der Musicaladaption von J. R. R. Tolkien „Lord of the Rings“, dessen Bücher weit mehr als 1000 Seiten zählen und deren Verfilmung gute 10 Stunden Anschauungsmaterial zustande brachte, hat Matthew Warchus eine neue Kategorie des Musicaltheaters geschaffen: das epische Musical.

Kein anderes Attribut fasst das Feuerwerk an Ausstattung, Licht-, Sound-, Kostümdesign und technischen Effekten besser zusammen. Rob Howell (Set und Kostüme), Paul Pyant (Licht) und Simon Baker (Sound) haben ganze Arbeit geleistet und entführen das Publikum spielend nach Mittelerde.

Das Geflecht aus Ästen und Wurzeln, das sich weit in den Saal und über die Decke zieht und so nicht nur sämtliche Logen verdeckt, sondern auch die verschnörkelte Deckenmalerei im Theatre Royal Drury Lane, die 17 hydraulischen Hubelemente der Bühne, die schwebenden Elben, die auf meterhohen Stelzen agierenden Bäume – in einer solchen Vielfalt hat man dies sicherlich noch nicht gesehen. Zählt man noch die zahlreichen Effekte wie das Verschwinden von Bilbo oder Frodo, das Auftauchen zahlreicher, an scheinbar unsichtbaren Seilen gesicherter, Elfen aus dem Schnürboden, die über Bühne und Saal fliegenden Glühwürmchen oder den über die gesamte Bühnenfront krauchenden Gollum (ebenfalls ohne sichtbare Seilsicherung) hinzu, ergibt sich langsam ein Eindruck, wo die 25 Mio. Pfund (rund 37,5 Mio. Euro) eingesetzt wurden, die für die Produktion ausgegeben wurden.

Die Kostümabteilung unter Rob Howell hat einen beachtlichen Anteil des Budgets verarbeitet, so erhielt Galadriel neben einem federleichten, elfengleichen Goldgewand eine spezielle Eisenkonstruktion unter ihre Schuhe montiert, die sie nicht nur 20 cm größer erscheinen lassen, sondern auch schwebend – eben wie man es von der weisen Herrscherin der Waldelben erwartet.

Die Hobbits sind alle bäuerlich gekleidet und mit zusätzlichen Bäuchen und „verlängerten Rücken“ ausstaffiert. Auch wenn man die großen Füße vermisst, wirken die Hobbits durch diese Kostüme sehr authentisch. Ebenfalls fehlen die spitzen Ohren der Elben, doch abgesehen von diesen kleinen Mankos und der Tatsache, dass Legolas im Gegensatz zu seinen blonden Elbenkollegen schwarzhaarig ist, wirken alle Kostüme geradeso wie vom Filmset importiert. Gleiches gilt auch für Gimli, Boromir, Gandalf, Saruman und Arwen, die aussehen wie aus der Leinwand ausgeschnitten.

Die Orks und Uruk-Hai sehen durch ihre schwarze Kleidung und die silbernen Totenkopfmasken tatsächlich zum Fürchten aus und stellen dies zwischen dem zweiten und dritten Teil der Saga deutlich unter Beweis, wenn sie durchs Publikum stürmen und einige Gäste nicht nur zum Aufschreien, sondern direkt zum Flüchten bringen. Doch der Clou sind ihre akrobatischen Einlagen auf der Bühne. Während sich die Orkarmee nach dem Vorbild der Hyänen im „König der Löwen“ mit den Armen auf Stelzen stützen und durch den gebückten Gang allein schon blutrünstig und einschüchternd wirken, haben die Uruk-Hai-Darsteller Poweriser, eine Art Sprungfeder, unter die Füße geschnallt und vollziehen damit wahre Kunststücke, Hochsprünge und Überschläge inbegriffen, die von Peter Darling (u. a. „Billy Elliot“) und Terry King perfekt in die durchchoreographierten Kampfszenen integriert werden.

Ohne die Trilogie zu kennen, verliert der Zuschauer manchmal den Anschluss, da die Charaktere nur recht oberflächlich ausgearbeitet wurden oder die Beweggründe für ihr Handeln aufgrund der fehlenden Hintergründe nicht nachvollziehbar sind. Beispielsweise versteht man nicht, warum Gandalf der Graue mit einem Mal als Gandalf der Weiße wiederkehrt. Auch die steigende Macht des Rings über Frodo wird nur sehr am Rande angeschnitten. Demgegenüber ist jedoch die Zerrissenheit von Gollum alias Sméagol brillant und in allen Facetten zu spüren, was aber vor allem an der schauspiele-rischen Leistung Michael Therriault liegt, der diese Rolle bereits bei der Weltpremiere in Toronto im vergangenen Sommer gespielt hat. Es verwundert kaum, dass er vom Premierenpublikum am meisten Applaus erhielt.

Bei diesem Ensemble fällt auf, dass viele Darsteller eine fundierte Ausbildung im Schauspielfach genossen haben und sich dort einen Namen gemacht haben. Umfassende Musicalerfahrung haben von den Protagonisten lediglich Laura Michelle Kelly als Galadriel, Rosalie Craig als Arwen und Jérôme Pradon als Strider/Aragorn vorzuweisen.

So glaubwürdig und trennscharf die einzelnen Rollen von den Darstellern auch gespielt werden, so sehr lassen es einige am Gesang vermissen. Allzu dünne Stimmen, vor allem von James Loye (Frodo) und Peter Howe (Sam), verleiden einem manchmal die Freude am Stück.

Die Handlung von J. R. R. Tolkiens Fantasy-Jahrhundertswerks bühnentauglich umzusetzen, ist eine Herausforderung. Nicht ohne Grund hat es Jahrzehnte gedauert, bis sich jemand an die Verfilmung gewagt hat. Nach durchwachsenen Kritiken in Toronto wurde das ehemalige Vier-Stunden-Stück zur Europapremiere noch einmal gestrafft und so spult sich die Geschichte vom Auenland über die Reise der Gefährten bis hin nach Mordor in gut drei Stunden plus (!) 20 Minuten Pause vor den Augen des Publikums ab. Der erste Akt entspricht dem ersten Buch und widmet sich komplett den Gefährten und ihrer beschwerlichen Reise vom Auenland Richtung Mordor.

Herausragend ist hier die Darstellung der verschiedenen Landschaften: vom flachen Auenland, durch dunkle Wälder über karge Felsen – alles wird optisch ausgezeichnet umgesetzt. Gerade die Wanderungen über die sich bewegenden Hubpodeste erfordert von den Darstellern sehr große Aufmerksamkeit, da die ganze Bühne permanent in Bewegung scheint.

Wie auch im Film sorgen die Hobbits Pippin (Owen Sharpe) und Merry (Richards Henders) für viel Chaos und damit viele Lacher auf Seiten des Publikums, während Legolas (Michael Rouse) ähnlich unnahbar ist und sich mit Vorliebe mit Gimli (Sévan Stephan) streitet. Dass die Größenunterschiede zwischen Zwergen, Hobbits, Menschen und Elben nicht durch zusätzliche Tricks sichtbar werden, ist dem hervorragenden Casting zu verdanken: Alle Rollen wurden „größenkonform“ besetzt und einzig Galadriel durch ihre Spezialschuhe ein wenig über ihre Darstellerkollegen erhoben.

Der zweite Akt zeigt zum einen die kämpfenden Truppen Sarumans (Brian Protheroe) und die Reise der Gefährten durch Lothlórien (die mit einem gleichnamigen Song sehr intensiv umgesetzt wird) als auch die Begegnung von Frodo und Sam mit Gollum, dem durch die Macht des Rings zu einer äußerst leidvollen Kreatur verkommenen Hobbit. Michael Therriault legt sehr viel Herzblut in seine Interpretation. Gollum erscheint in der Musicalinszenierung weitaus weniger bösartig, vielmehr bekommt man Mitleid mit der zerrissenen Figur.

Sowohl die Art und Weise wie den Elben Flügel verliehen werden als auch die erste Begegnung mit Gollum sind absolut sehenswert. Jérôme Pradon alias Strider/Aragorn hat in der Todesszene von Boromir seinen stärksten Auftritt, da er eben nicht nur der gefühlskalte Herumtreiber ist, sondern eine bewegte Geschichte hat. Das Duett mit Arwen zu Beginn des dritten Aktes ist sehr romantisch und unterstreicht die Vielschichtigkeit dieses Charakters.

Der dritte Akt ist wie oben beschrieben durch den Einfall der Orks im Publikum vom zweiten getrennt. Strider outet sich als Aragorn und vereint die Völker hinter sich zum Kampf gegen Sauron. Sam zwingt Frodo, seinen Auftrag zu erfüllen und den Ring zu zerstören. Auch Gollum findet sein persönliches Finale, in dem er den Ring an sich reißt und mit ihm gemeinsam ins Verderben fällt. Am Schluss sind alle entkräftet von den Strapazen, aber glücklich, Arwen wird menschlich und heiratet ihren Aragorn, Gandalf (Malcom Storry) wird mithilfe der Hobbits zum mächtigsten Wesen Mittelerdes, gemeinsam wird das zuvor verwüstete Auenland wieder aufgebaut, Sam und seine Rosie gründen eine Familie und Frodo, ja Frodo geht auf eine Reise ohne Wiederkehr.

Der Sieg wird mit „City of Kings“ beeindruckend gefeiert, alle wichtigen Charaktere vereinen sich gemeinsam auf der Bühne, und im Epilog verabschiedet sich Frodo herzergreifend von seiner Hobbitwelt und geht mit Bilbo, Galadriel und Gandalf.

Das einzig wirklich Negative an diesem Musical ist die belanglose Partitur. Kein Song ist so herausragend, dass er länger im Gehör hängen bleibt. Auch wenn alle Hauptcharaktere ihre Soli haben, prägt sich maximal die ungewöhnliche Sprache der Elben und die eleganten Gestiken von Arwen und Galadriel ein. Schade, dass die Gelegenheit nicht genutzt wurde, den so unterschiedlichen Figuren ihren ganz eigenen Sound auf den Leib zu komponieren. A. R. Rahman hat mit zahlreichen Bollywood-Soundtracks und der Musik zu „Bombay Dreams“ durchaus bewiesen, dass er symphonische Klänge und musicaltaugliche Melodien kreieren kann. Dies ist ihm für „Lord of the Rings“ leider nicht gelungen. Einzig die nordischen Folklorestücke der finnischen Gruppe Värtinnä, mit denen die Hobbits musikalisch ausgestattet wurden, sind rund. Doch auch hier klingt das meiste nicht neu, sondern bekannt und wenig bemerkenswert.

„Lord of the Rings“ ist im Gegensatz zu vielen anderen Musicals nicht durchkomponiert, sondern bedient sich dem filmischen Mittel, unter die vorhandenen Dialoge Melodien zu legen, die der Intensität der Situation noch mehr Nachdruck verleihen sollen.

Da es in dieser Show unglaublich viel zu schauen und weniger zu hören gibt, kann man einen Platz im ersten Rang nur empfehlen. Dort sieht man viele Details, die im hinteren oder seitlichen Teil der Bühne passieren und dem Parkettzuschauer durch die Hubpodeste verdeckt werden und ist immer noch dicht genug am Geschehen, um auch Gestik und Mimik auf sich wirken lassen zu können. Aber auch von hier kann man nicht erkennen, wie Frodo von einer Sekunde zur nächsten, in bester David Copperfield Manier, von der Bühne verschwindet. Doch ein bisschen Bühnenmagie darf bei einer Europapremiere auch bestehen bleiben. Immerhin wurden für diese und ähnliche Effekte eigens ein Special Effect Designer (Gregory Meeh) und Paul Kleve engagiert, der für Illusionen und Magic Effects zuständig ist. Da letzterer bereits mit Daniel Radcliffe für die Harry Potter Verfilmungen gearbeitet hat, versteht er sein Handwerk.

Das Premierenpublikum, zu dem auch namhafte Gäste wie Kevin Spacey, Brian May, Andrew Lloyd Webber und Don Black zählten, war sichtlich angetan, von dem, was es an diesem Abend erleben durfte. Spacey zeigte sich im Gespräch besonders von Orks und deren bestialischer Kraft beeindruckt. Doch trotz aller Superlative in Sachen Ausstattung und Effekte bleibt ein fader Beigeschmack, da weder die komplexe Story adäquat umgesetzt werden konnte, noch die Musik passend erscheint.

Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical

Theater: Theatre Royal Drury Lane, London
Premiere: 19. Juni 2007
Darsteller: Laura Michelle Kelly, Jerôme Pradon, Michael Therriault
Regie: Matthew Warchus
Fotos: Tristram Kenton