home 2019 Andrew Lloyd Webbers Klassiker in einer kurzen, knackigen Fassung

Andrew Lloyd Webbers Klassiker in einer kurzen, knackigen Fassung

Das Ahoi Hafenfestival in Stralsund und Greifswald lockt seit fünf Jahren Einheimische und Touristen auf die Hansawiese bzw. in den Museumshafen. In diesem Jahr steht mit „Jesus Christ Superstar“ ein weltweit erfolgreiches Rockmusical auf dem Programm.

Die abendliche Startzeit um 21.30 Uhr ist auf die Lichtverhältnisse abgestimmt: Die Show beginnt während der Dämmerung und endet in dunkler Nacht, so dass auch die Lichtdesigner – die bei Sommer Open Air Produktionen sonst häufig das Nachsehen haben – ihren Teil zum optischen Gesamtkunstwerk beitragen können.

Die Bühne besteht aus Gerüsten und Treppenelementen (Christopher Melching – ebenfalls Kostüme); für Abwechslung sorgen die fünf LED-Leinwände unterschiedlicher Größe. Für die Illustrationen und das Video-Design zeichnet Gintare Minelgaite verantwortlich. Häufig lenken diese Videos aber vom Geschehen eher ab, als dass sie die Handlung sinnvoll ergänzen. So werden bei den Auseinandersetzungen von Judas und Maria sowie Jesus und Judas im Hintergrund Szenen eines Boxkampf-Cartoons und während der Ouvertüre eine Zeichentrick-Mondlandung sowie ein Sternenkrieg gezeigt. Auch die aufblühenden Lilien bei „Hosanna“ passen nicht wirklich zum Geschehen.

Einzig bei „Gethsemane“ kann man die im Hintergrund eingeblendeten Bilder der Erde aus dem Weltall mit der Handlung zusammenbringen: Jesus weiß, dass er sterben wird und alle – auch er – sehen tatenlos zu. Anders ergeht es dem blauen Planeten aktuell auch nicht.

Musikalisch ist dieses Rockmusical leider eine klassisch gespielte Rockoper. Das Philharmonische Orchester Vorpommern unter der Leitung von David Behnke und der Opernchor des Theaters Vorpommern (Einstudierung: Mauro Fabbri) intonieren Andrew Lloyd Webbers druckvolle Kompositionen zwar tonal einwandfrei, doch das Ganze wirkt zu opernhaft, zu aufgesetzt. Es fehlt das umfassende Dirigat, das aus dem fehlerfreien Spiel und Gesang der Noten das Rockmusical macht, das der Musicalzuschauer kennt.

Diese Disharmonien hört man vom ersten Moment an und auch dem dreiköpfigen Tontechnikteam gelingt es nicht, die Unausgewogenheit zu regulieren. Auch scheinen die Bässe zu fehlen, was bei einem ausgewiesenen Rockmusical sehr ins Gewicht fällt.

So kämpfen die Protagonisten doch allzu oft gegen zu laute Einzelinstrumente an oder versuchen vergeblich, sich stimmlich gegen das Orchester zu behaupten.

Als Gäste hat das Theater Vorpommern Chris Murray und Sasha Di Capri engagiert, die als erfahrene Darsteller von Jesus und Judas ihr ganzes Können ausspielen. Chris Murray hat zudem gemeinsam mit Dirk Löschner die Regie dieser Inszenierung übernommen.

Die beiden Hauptfiguren haben viele Freiheiten und wirken in ihrem Handeln authentisch.

Auch Andrey Valiguras (Kaiaphas), Martin Mulders (Annas), Thomas Rettensteiner (Pilates) und Mario Gremlich (Herodes) spielen und singen gefällig. Einzig Maria (Feline Zimmermann) wirkt sehr hölzern und erinnert nicht zuletzt auch wegen ihrer knallroten Perücke eher an eine manipulative Jessica Rabbit als an die gefühlvolle, Jesus umsorgende Frau.

Di Capri ist rockig, wird aber massiv von der schlechten Tontechnik ausgebremst. Größtenteils klingt er sehr „mumpfig“, was sich negativ auf die Intensität seiner Auseinandersetzungen mit Jesus oder Szenen wie Judas Selbstmord und „Superstar“ auswirkt.

Chris Murray legt Jesus ungewöhnlich wissend und bitter, gleichzeitig ahnungsvoll und betroffen an. Gesanglich meistert er die Partie bravourös und sorgt mehrfach für Gänsehaut, auch wenn seine lyrische Intonation zuweilen etwas irritiert. Mit ungewöhnlichen Phrasierungen macht er „Gethsemane“ zu dem erwarteten Showstopper des Abends.

Da diese Produktion komplett auf Deutsch und die Musik ungewöhnlich zurückhaltend ist, kann man den Texten von Anja Hauptmann gut folgen. Dadurch wirken die Charaktere nahbarer als sonst, was ein positiver Nebeneffekt der ansonsten sehr bedauernswerten orchestralen Gesamtleistung ist.

Etwas schräg sind die Leuchtstäbe der Römer, die Jesus festsetzen und das rote Halsband, welches Jesus offenbar unsägliche Schmerzen zufügt. Diese Anleihen an die SciFi-Welt sowie die MGs, mit denen die Apostel herumfuchteln, sind eher befremdlich. Einen roten Faden sucht man in dieser Inszenierung vergeblich. Sie ist nicht durchgehend modern, aber auch eine andere einheitliche Spielebene sucht man vergebens.

Einzelne Szenen jedoch, wie beispielweise Judas‘ Selbstmord, sind sehr gut durchdacht und funktionieren auch mittels der ausgefeilten Choreographien von Sven Niemeyer nachhaltig.

Anstatt der üblichen 135 Minuten ist diese Inszenierung nur gut 95 Minuten lang und wird ohne Pause durchgespielt. Auch diese deutliche Kürzung trägt sicherlich dazu bei, dass nicht alle Charakterzüge ausgearbeitet werden konnten. Das Publikum hat kaum die Chance, eine Beziehung zu den Protagonisten aufzubauen, geschweige denn das Gesehene zu verarbeiten. Und so bleibt der Szenenapplaus an vielen Stellen aus und es wird zügig weitergespielt.

Bei „Jesus Christ Superstar“ in Stralsund wird viel von dem Potential verschenkt, über das diese Show verfügt. Das ist sehr bedauerlich, denn Protagonisten, Ensemble und Bühnenbildner zeigen, dass sie mehr können und auch eindeutig mehr verdient haben.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Hansawiese, Stralsund
Besuchte Vorstellung: 13. Juli 2019
Darsteller: Chris Murray, Sasha Di Capri, Feline Zimmermann, Andrey Valiguras, Martin Mulders, Thomas Rettensteiner, Mario Gremlich 
Regie / Musik: Chris Murray / Andrew Lloyd Webber
Fotos: Theater Vorpommern / Vincent Leifer