home 2019 Eine detektivische Uraufführung mit viel Potential

Eine detektivische Uraufführung mit viel Potential

Knapp fünfeinhalb Jahre nach dem bemerkenswerten Tryout von „Sherlock Holmes 2.0“ im Hamburger Grünspan fand im Januar die Weltpremiere der Bühnenfassung statt. Der Titel des Stücks wurde etwas abgewandelt – aus dem 2.0 wurde „Next Generation“ und auch das Buch wurde von Joachim, jetzt JO, Quirin sowie Rudi Resche und Christian Heckelsmüller noch einmal straff überarbeitet.

Im Mittelpunkt steht nach wie vor der sageumwobene Diamant „Auge des Horus“, der in London gestohlen wird und Sherlock Holmes auf den Plan ruft. Dieser hatte den Diamanten schon lange im Blick, wurde doch die einzige Frau, für die der Detektiv jemals Gefühle hatte, Irene Adler, wegen ihres Wissens über Herkunft und Aufenthaltsort dieses besonderen Edelsteins heimtückisch ermordet.

20 Jahre nach diesem Mord wird das „Auge des Horus“ im Britischen Museum ausgestellt. Die feine Londoner Gesellschaft ist aus dem Häuschen, ranken sich doch zahlreiche Gerüchte und Mythen um dieses glänzende Kohlestück. Die Museumskuratorin Mrs. Mason hat alle ihr zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung gesetzt, um den Diamanten nach London zu holen.

Sherlock Holmes lässt sich von Dr. Watson überreden, an der feierlichen Ausstellungseröffnung in Anwesenheit des ägyptischen Premiers teilzunehmen und prompt wird das Duo Zeuge des Mordes am Premier sowie des Diebstahls des Diamanten. Sofort nehmen die beiden die Ermittlungsarbeit auf und müssen sich gegen Klügelei und politische Intrigen zur Wehr setzen.

Unterstützung bekommt das erfahrene Detektivteam vom Waisenjungen John, der als Kellner auf der Ausstellungseröffnung arbeitete sowie Catherine Mason, der Tochter der Kuratorin, die als selbstbewusste Frau und clevere Medizinstudentin eigentlich schon genug Fronten hat, an denen sie kämpft. Etwas vorhersehbar verlieben sich die beiden Hobbyschnüffler nach anfänglichem Necken ineinander.

Die Hintergründe des Mordes am ägyptischen Premier sind ebenfalls hoch emotional und dienen nur einem einzigen Zweck: Sherlock Holmes in die Falle zu locken. Mrs. Mason ist die Schwester von Dr. Moriarty, Holmes Erzfeind, den dieser bei einem Kampf 20 Jahre zuvor getötet hatte. Mrs. Mason hat ihren Bruder vergöttert und nach dessen Tod derart glorifiziert, dass sie es zu ihrem einzigen Lebensziel gemacht hat, den Mörder ihres Bruders zur Strecke zu bringen. Auf Kollateralschäden konnte und wollte sie hierbei keine Rücksicht nehmen.

Beim Diplomatenball kommt ihr Holmes schon fast auf die Schliche, da er das Parfüm wiedererkennt, dessen Duft auch bei Irene Adlers Ermordung in der Luft lag. Durch ein geschicktes Täuschungsmanöver gelingt es aber Mrs. Mason, Dr. Watson auszuschalten und Holmes zu entführen.

John erachtet es als seine Aufgabe, den Fall zu lösen. Seine Neugierde ist schier endlos. Dies erklärt sich aber schnell, als er einen Brief seiner verstorbenen Mutter erhält, die niemand anderes war als Irene Adler. Auch dass Adler und Holmes mehr als nur eine amouröse Freundschaft pflegten, wird in dieser Szene deutlich, da im Brief offenbart wird, dass John Sherlock Holmes‘ Sohn ist.

Mit vereinten Kräften finden Catherine und John das Versteck, in dem Holmes gefangen gehalten wird. Vorher müssen sich aber durch eine Opiumhölle, Dr. Watsons Kriegstraums miterleben und Lady Margarets Séance beiwohnen, mit der diese auf ihre ganz eigene Art versucht, des Rätsels Lösung zu finden. Am Hafen trifft das junge Paar auch auf Catherines Mutter, die ihrer Tochter offenbart, warum sie niemals über ihre Vergangenheit oder Familie gesprochen hat und warum sie um jeden Preis will, dass Catherine in der männerdominierten Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts ihre Frau steht.

Es kommt zum finalen Kampf, aus dem die Nachwuchsdetektive als Sieger hervorgehen. Der zuvor in einer Kiste in die Themse geworfene Sherlock Holmes befreit sich nicht nur selbst, sondern bringt auch gleich die tropfnasse Mrs. Mason mit, deren Zeppelin während ihres Fluchtversuchs abstürzt.

Ein lupenreines Happy End!

Es ist schade, dass der kreative Ansatz, mit einem Senior- und Junior-Detektivteam bestehend aus Vätern und Söhnen zugunsten einer Liebesgeschichte aufgegeben wurde. Dadurch wirkt die pfiffige Geschichte von 2013 etwas gestreamlined und gefälliger für die breite Masse. Nichtsdestoweniger funktioniert insbesondere der zweite Akt sehr gut, was aber nicht zuletzt auch daran liegt, dass die Charaktere hier ihre starken, essentiellen Soli zum Besten geben.

Allen voran Stefanie Tschöppe, welche die selbst auferlegte Härte der Mrs. Mason absolut glaubwürdig über die Rampe bringt und auch gesanglich all die Verletztheit und den unbedingten Willen zu transportieren vermag.

Als Holmes‘ Haushälterin und Vermieterin begeistert Iris Schumacher. Gutmütig und immer einen frechen Spruch auf den Lippen hält sie das Heft fest in der Hand und weiß genau, was Dr. Watson und der so wenig gesellschaftswillige Holmes brauchen. Ihr Solo, in dem sie John den Brief seiner Mutter vorliest (bzw. vorsingt) ist wundervoll.

Ethan Freeman und Frank Logemann geben die erfahrenen Ermittler. Beide füllen ihre Rollen überzeugend aus. Freeman gibt dem Meisterdetektiv ein tiefes Gefühlsleben, welches dieser aber gut zu kaschieren weiß. Logemann gibt einen vielschichtigen, spannenderen Watson als man ihn (bis zur BBC-Serie mit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman) kannte. Sein gesungenes Kriegstrauma ist ergreifend.

Das jugendliche Liebespaar spielen Merlin Fargel und Alice Wittmer. Beide haben die Figuren – wie auch ihre erfahreneren Kollegen – mit erarbeitet. Dadurch wirken die meisten Charaktere sehr authentisch. Die vordergründig aufmüpfige Catherine und der neugierige Waisenjunge John sind ein sehr harmonisches Paar und man nimmt beiden Darstellern die Weiterentwicklung der Alter Egos ab.

In kleineren Rollen sind Annette Lubosch (Lady Margaret), Darrin Lamont Byrd (Aleister Crowley), Olaf Meyer (Inspektor Lestrade), Lena Wischhusen (Irene Adler), Claudio Maniscalco (Mr. Kurayami), Michael Clauder (Moriarty) und Marco Heinrich (Bürgermeister Strong) zu sehen. Jeder hat seinen kleinen eigenen Moment und versucht, das Beste daraus zu machen. Dass manche Szenen wie der Präsentationssong für das Auge des Horus (bei dem scheinbar auch alle Darsteller noch den Text von kleinen Zetteln ablesen), die „Opiumhöhle“ oder „Lady Margarets Séance“ zu lang geraten und den politisch-strategischen Machenschaften des Bürgermeisters und von Lestrate sehr viel Raum gegeben wird, sind nur einige Beispiele für das durchaus noch vorhandene Optimierungspotential an diesem Stück.

Dietmar Wolf hat für diese Show ein cleveres Bühnenbild erschaffen, in dem auf zwei Ebenen und durch Projektionsflächen auf Vorhängen (Licht & Projektionen: Michael Haake) zahlreiche Szenenbilder geschaffen werden, in denen sich das Katz- & Mausspiel entfaltet.

Christian Heckelsmüllers Kompositionen werden von Philipp Polzin und seiner Band versteckt hinter dem Vorhang raumfüllend intoniert. Im ersten Akt fällt die Umbaupausenmusik störend auf, im 2. Akt fehlt diese dann. Insgesamt sind die Songs gefällig, man hört viel Gitarrenpop, doch es fällt auf, dass die Soli in der zweiten Hälfte deutlich vielseitiger sind. Doch Stücke wie “Kein Fall für Sherlock Holmes” oder Catherines Liebessong gehen ins Ohr und man wippt unweigerlich mit.

Marta di Giulio hat die Choreographien für diese Uraufführung geschaffen. Nicht jeder im Ensemble ist der geborene Tänzer, was in einigen Szenen doch sehr deutlich wird. Vielleicht wäre hier etwas weniger mehr gewesen? Auch die durchaus ansprechend inszenierten Kampfszenen scheinen etwas zu viel für diese ambitionierte Produktion.

Insgesamt sieht man, dass hier mit viel Herzblut ein Projekt erfolgreich bis zur Weltpremiere vorangetrieben wurde. Alle Kreativen und Darsteller sind Könner und beherrschen ihr Fach. Doch an einigen Stellen hätte ein Tempolimit gutgetan. Die Konzeptfassung 2013 hat auch ohne große Choreographien, ausgefeilte Regie und technischen Aufwand überzeugt. Die Charaktere standen im Mittelpunkt. Dieser Fokus ist der uraufgeführten Fassung zugunsten aller anderen Gewerke etwas abhandengekommen.

Doch das Team um Rudi Reschke wird ganz sicher auch nach der Premiere nicht zurücklehnen, sondern das Stück immer weiterbearbeiten und optimieren.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: First Stage Theater, Hamburg
Besuchte Vorstellung: 22. Januar 2019
Darsteller: Stefanie Tschöppe, Iris Schumacher, Ethan Freeman, Frank Logemann, Merlin Fargel, Alice Wittmer, Annette Lubosch, Darrin Lamont Byrd, Olaf Meyer, Lena Wischhusen, Claudio Maniscalco, Michael Clauder, Marco Heinrich
Regie / Licht & Projektionen: Rudi Reschke / Michael Haake
Fotos: Mirco Wallat, Stefan Wagner