home 2018 Ein kantiger Charakter – im echten Leben genauso wie auf der Musicalbühne

Ein kantiger Charakter – im echten Leben genauso wie auf der Musicalbühne

Die Rehberghalle im beschaulichen Roßdorf bei Darmstadt ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Sehr viele Gäste sind „Wiederholungstäter“, denn sie wissen aus den letzten Jahren, dass sie vom Team von Broadway Entertainment um Benedikt Vogel und Hans-Tillmann Rose Großes erwarten dürfen. Nachdem in den vergangenen Jahren eher große Hitmusicals wie „Sunset Boulevard“, „Jekyll & Hyde“ oder „Shrek“ aufgeführt wurden, wurde in diesem Jahr das biografische Musical „Chaplin“ von Christopher Curtis und Thomas Meehan ausgewählt.

Insgesamt 17 Darstellerinnen und Darsteller sowie ein 14-köpfiges Orchester zeichnen Charlie Chaplins Lebensweg nach. Sein Weg von London nach Hollywood und zurück nach Europa war von mutigen (andere würden sagen leichtsinnigen) Entscheidungen, Neid und Intrigen gekennzeichnet. Charlie Chaplin war Perfektionist und Lebemann und zeitweilig auch politisch aktiv, aber tief drinnen doch zutiefst unsicher und voller Selbstzweifel.

Musikalisch hat Curtis das Stück mit Charleston und Swing unzweifelhaft im beginnenden 20. Jahrhundert verortet. Er hat schöne, kraftvolle Balladen geschrieben, mit denen er gleichzeitig Chaplins Zerrissenheit treffsicher darstellt. Exemplarisch hierfür ist natürlich das mehrfach wiederholte „Leben kann wie im Film sein“. Nico Rabenald zeichnet für die deutsche Adaption des Stücks verantwortlich, die ihm sehr gut gelungen ist. Den Wortwitz der englischen Originalfassung hat Rabenald treffend adaptiert.

Regie und Dramaturgie haben einmal mehr Benedikt Vogel und Hans-Tillmann Rose gemeinsam übernommen. Ihre Personenregie ist sehr gelungen, die einzelnen Charaktere haben viel Raum, sich zu entfalten und eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Hierbei stechen vor allem Helena Lenn als intrigante Journalistin Hedda Hopper und Hanna Heeg als Charlie Chaplins letzte Ehefrau und Mutter seiner acht Kinder Oona O’Neill. Beide spielen exzellent und insbesondere Lenn setzt mit ihrer jazzigen Interpretation von „Was passiert, wenn alles zusammenbricht“ Akzente. Sie weiß genau, wie sie ihre Stimme einsetzen muss, um den gewünschten Effekt zu erreichen.

Auch Vogel als Chaplin und Rose als dessen Bruder Sidney kommen sehr gut über die Rampe. Es steht Vogel sehr gut zu Gesicht, sich intensiv mit einer Charakterrolle zu befassen, anstatt den Fokus auf den Gesang zu legen. Dies merkt man besonders bei dem langen Monolog „Für alle Unterdrückten dieser Welt“. Rose überzeugt vor allem durch das Mitgefühl, das Sidney stets für seinen Bruder hatte. Sein „Ganz weit weg von London“ und „Beschützer“ sind einfach nur rührend.

Auch Johannes Kahlhöfer kann als Chaplins erster Chef Fred Karno durchaus überzeugen. Der von ihm mit dem Ensemble gemeinsam dargebotene „Vaudeville Traum“ hat eine gute Energie und die Choreographien sind sehr ansprechend. Letztere stammen von Hanna Heeg und Anna Rühl, die in diesem Jahr neu zum Team hinzu gestoßen sind.

Valentin Klink macht als Chaplins erster Hollywood-Regisseur Mack Sennett ebenfalls eine gute Figur. Auch das übrige Ensemble kann im Großen und Ganzen überzeugen, auch wenn einige Gestiken viel zu ausladend und einige Gesangspassagen zu schrill sind. Leider hat die Tontechnik während der besuchten Vorstellung einige Male daneben gegriffen, so dass es zu vielen ausgefallenen, zu lauten oder zu halligen Mikros gekommen ist, was den Gesamteindruck etwas trübte.

Doch Regieeinfälle wie bspw. der erste Besuch Chaplins in einem Lichtspielhaus, wo er einen Stummfilm-Ausschnitt aus Oliver Twist sieht, in dem er sich selbst wiedererkennt, sind klasse. Dass hier Chaplins Erinnerungen (gespielt von Mutter, Polizist und Charlie als Kind) von den Abläufen und Mundbewegungen her nicht 100% zum Filmausschnitt passten, ist schade, aber der kreative Ansatz ist allemal erwähnenswert.

Ebenso gelungen ist das Finale: Charlie Chaplin bekommt 1972 den Ehren-Oscar verliehen und sogar das Publikum in Roßdorf schluckt, als der früher so geliebte Tramp an der Seite seiner Ehefrau Oona die Bühne betritt und vorher einmal mehr zweifelt, ob dies alles eine gute Idee ist. Die Szene ist so amerikanisch wie sie nur sein kann. Sie drückt (bei einigen Zuschauern erfolgreich) auf die Tränendrüse und lässt den Respekt vor dem Künstler Charlie Chaplin nur noch größer werden.

Als Vogel sich dann am Schluss noch einmal in den Tramp verwandelt und durch eine Leinwand aus dem Blickfeld entschwindet, so dass das Publikum nur noch einen Filmausschnitt sieht, in dem der Tramp in seiner so einzigartigen Weise über eine lange Straße davonschlendert, ist dies einmal mehr ein sehr gelungener Einfall des Teams Vogel / Rose.

„Chaplin“ ist so völlig anders als die bisherigen Musicals, die Broadway Entertainment aufgeführt hat. Aber der Aufstieg und Fall von Charlie Chaplin an sich sowie die mit viel Einfühlungsvermögen umgesetzte Inszenierung zeigen, dass man auch mal neue Wege beschreiten sollte. Der Erfolg gibt dem Team Recht!

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Rehberghalle, Roßdorf
Besuchte Vorstellung: 14. September 2018
Darsteller: Benedikt Vogel, Hans-Tillmann Rose, Helena Lenn, Hanna Heeg, Johannes Kahlhöfer, Valentin Klink
Regie / Musik: Benedikt Vogel / Christopher Curtis
Fotos: PHotographie