home 2016 Masha Karell stellt alle in den Schatten

Masha Karell stellt alle in den Schatten

In diesem Jahr widmen sich die Hanauer Märchenfestspiele mit ihrem Open Air Musical dem Grimmschen Klassiker „Rapunzel“. Die eigentliche Handlung kennt – nicht erst seit Disney’s „Rapunzel – Neu Verföhnt“ – wohl jeder im Publikum: Ein kleines Mädchen wird von einer bösen Zauberin in einem Turm gefangen gehalten, da die Zauberin das Mädchen ganz für sich allein haben möchte und niemandem vertraut. Das Mädchen wird älter und beginnt Fragen zu stellen. Per Zufall entdeckt ein Prinz den Turm und erklimmt ihn mithilfe von Rapunzels langem Haar. Es kommt zum Bruch mit der Zauberin, aber schlussendlich sind Rapunzel und ihr Prinz glücklich vereint.

In Hanau dauert die Herleitung bis zum spannenden Teil der Handlung fast den kompletten ersten Akt. Frank-Lorenz Engel legt viel Wert auf die Beweggründe der vermeintlich bösen Zauberin. Allerdings ist Frau Gothel, so der Name der Zauberin, nicht von Grund auf böse, sondern lediglich von ihrem unerfüllten Kinderwunsch zerfressen. Sie betreibt ein Kinderspielparadies, in dem auch die Angestellten vom königlichen Hof ein und ausgehen. So auch Martin und Johanna, die in Bälde ihr erstes Kind erwarten und bei Frau Gothel ihre Grundausstattung kaufen.

fittosize_570_0_368a9a55d3f7e32a890d01a28027379a_raAls Johanna eines Abends von Gelüsten nach frischen Rapunzeln (Feldsalat) geplagt wird, klettert Martin ihr zuliebe in den verbotenen Garten, um den Salat für seine Frau zu stehlen. Es gab schon immer Gerüchte, dass es in diesem Garten spuken soll. Doch in Wirklichkeit hütet Frau Gothel diesen verbotenen Garten und vernichtet jeden, der ihn unerlaubterweise betritt. Sie erwischt Martin auf frischer Tat. Als sie droht, ihm das Leben zu nehmen, versucht er zu verhandeln. Er ringt Frau Gothel das Versprechen ab, dass sie ihn am Leben lässt, wenn er ihr sein Erstgeborenes überlässt. Kurze Zeit nach der Geburt löst Frau Gothel dieses Versprechen ein und nimmt das Kind zu sich.

Johanna kommt über diesen Verlust kaum hinweg und ist sich immer sicher, dass ihre Tochter noch lebt. Martin versucht verzweifelt daran, das Geschehene hinter sich zu lassen. Ihnen kommt irgendwann der Zufall zur Hilfe, denn der übermütige Königssohn und seine Cousins entdecken bei Spielen im Wald den Turm und der Prinz erklimmt diesen, um sich dann Hals über Kopf in Rapunzel zu verlieben.

Dass der Prinz überhaut keine Lust auf seine anstehende Krönung hat und einer seiner Cousins die Liebelei als Chance sieht, mit Frau Gothel gemeinsame Sache zu machen, den Prinzen zu beseitigen und selbst den Thron zu besteigen, ist eine neue Facette des alten Märchens. Auch dass eine schusselige Elfe und ein grummeliger Zwerg jahrelang nach Rapunzel suchen, um sie aus den Fängen der Zauberin zu befreien, kommt so in Grimms Märchen nicht vor. Doch diese beiden parallelen Handlungsstränge bringen mehr Schwung in das Stück und eröffnen Möglichkeiten für vielseitige gesangliche, schauspielerische und choreographische Highlights.

rapunzel4Dass am Ende die Zauberin Gothel ihrem unvermeidlichen Schicksal zugeführt wird, Johanna und Martin ihre Tochter wiederbekommen und sich der Prinz mit Rapunzel an seiner Seite dem Königsamt gewachsen sieht, ist das obligatorische Happy End, ohne das ein Märchen einfach nicht enden kann.

Auch in diesem Jahr haben die Teams von Bühnenbild (Tobias Schunck) und Kostümbild (Ulla Röhrs) ganze Arbeit geleistet: Zahlreiche versteckte Türen und drehbare Bühnenelemente sorgen für Abwechslung und verschiedene Spielebenen. Die Kostüme, allen voran diejenigen von Frau Gothel, Elfe Felicitas, den drei Blumen, Grompf und die Königsrobe, sind farbenfroh, rollengerecht und mit vielen kleinen Details gearbeitet. Hier hat sich jemand Gedanken gemacht!

Einen faden Beigeschmack hinterlässt einmal mehr die Tontechnik im Amphitheater am Schloss Philippsruhe. Einzig die Ensemblenummern kommen druckvoll aus den zahlreichen Lautsprechern. Viele Soli fallen einer schlechten Aussteuerung – mal zu viele Höhe, mal zu viele Bässe, mal insgesamt zu leise – zum Opfer. Bei Shay Cohens Kompositionen zu „Rapunzel“ gibt es viele gewichtige Soli, insbesondere für die Damen. Das beginnt direkt in der zweiten Szene mit „Ein Kind“, in dem sich Frau Gothels unbändiger Kinderwunsch eindrucksvoll Bahn bricht. Masha Karell zeigt schon zu diesem sehr frühen Zeitpunkt, was stimmlich in ihr steckt. Doch auch Judith Jakob kann mit ihrer schönen Beltstimme als von Schwangerschaftsgelüsten getriebene Johanna überzeugen.

Einen roten Faden lässt Cohens Werk hingegen nicht erkennen: Die Blumen tanzen zu einem enervierenden Boogie, Grompf und Felicitas legen einen Rock’n’Roll hin, zwischendurch hört man gefällige Popsongs und eine Hiphop-Persiflage und on top erklingen die kraftvollen Musicalarien von Gothel. Entsprechend diesem wirren musikalischen Konzept hat Bart De Clercq die Tanzszenen choreographiert. Nachvollziehbarerweise gibt es auch hier keine einheitliche Linie. Das Ende vom 1. Akt verpufft vollends, da einfach alle Darsteller auf der Bühne stehen, tanzen und es nicht zum Klimax kommt. Die Choreographie des Finales ist ebenso hektisch und mag so gar nicht zum Song „Die Liebe ist die stärkste Macht“ passen.

Auch inhaltlich ging es bei einigen Szenen mit dem Kreativteam durch: Warum eine etwas schusselige Elfe bei der Bestäubung ziemlich lüsterner Blumen helfen muss, die nach erfolgter Besamung die obligatorische „Zigarette danach“ rauchen, ist in einem Familienmusical eher unangebracht und zieht die Handlung nur unnötig in die Länge. Auch ihr Hilferuf nach den Elfenfreundinnen im zweiten Akt hat keinerlei Gewicht für die Handlung und erinnert zudem stark an die tanzenden Rebhühner aus dem „Gestiefelten Kater“ 2015.

Doch drei starke Charaktere entschädigen für Vieles: Frau Gothel, Felicitas und Grompf sind durchdacht, das Publikum kann ihren Beweggründen gut folgen und die Darsteller legen alles in die Interpretation hinein, was bei einem eher seichten Märchen möglich ist. Masha Karell besticht als einschüchternde Zauberin mit unerwartet viel Stil. Wenn sie die zentrale Treppe hinabstreitet, ist sie über jeden Zweifel erhaben. Ihr Erklettern des Turms in Ballrobe und High Heels erntet zurecht Szenenapplaus. Jedoch gelingt es Karell auch, die verletzte, um Rapunzel besorgte Seite von Frau Gothel glaubwürdig über die Rampe zu bringen. Ihr „Nimm Dich in Acht mein Kind“, wenn Rapunzel nach ihrem Vater fragt und Frau Gothel gegen die Menschen im Allgemeinen und Männer im Besonderen wettert, sorgt für Gänsehaut. Das Karell in der Vergangenheit schon erfolgreich als Norma Desmond auf der Bühne stand, kann sie nicht verhehlen und so entdeckt man viel Divenhaftes in ihrem Spiel, was aber zur Außenseiterin Gothel sehr gut passt.

rapunzel6Die Elfe Felicitas und der Zwerg Grompf bilden das ungleiche Paar, welches sich auf die Suche nach Rapunzel macht, sie per Zufall entdeckt (Felicitas schaut im Vorbeiflug in den Turm und entdeckt das Mädchen), den Prinzen bei seinem Kampf gegen die Zauberin unterstützt, die Gothel mit einem Elfenzauber außer Gefecht setzt und mit einer Spinne in die Flucht schlägt. Wie es sich für ein Märchen gehört, verlieben sich die beiden Fabelwesen trotz aller vermeintlichen Gegensätze auch noch ineinander.

Sophie Euskirchen gibt der Elfe ihre unverwechselbare quakige Stimme. Sie bringt nicht nur deren Schusseligkeit ungemein sympathisch über die Rampe, sondern kann auch ihr Comedy-Talent unter Beweis stellen. Dass sie nebenbei noch gut singt und weiß, wie sie sich in ihren VoKuHiLa-Kleid gekonnt bewegt, macht dieses energiegeladene Gesamtpaket komplett. Ihre Wortgefechte mir Grompf sind lustig, kindgerecht und sorgen für viele Lacher. Den schlecht gelaunten, ziemlich faulen Grompf gibt Alexander Leder. Gesanglich muss er nicht so viel zeigen, dafür überzeugt er mit seinem Spiel und kann die Wandlung vom Miesepeter zum liebenswerten Zwerg gut nachzeichnen. Euskirchen und Leder haben die dankbarsten Szenen und harmonieren auf der Bühne sehr gut. So verwundert es wenig, dass sie nach Masha Karell am meisten Applaus bekommen.

Dabei sollte es doch eigentlich Rapunzel sein, über deren Befreiung und rosige Zukunft das Publikum sich am meisten freut. Jedoch steht in dieser Inszenierung klar die Zauberin im Mittelpunkt des Interesses. Katharina Abt ist als Rapunzel kaum mehr als schmückendes Beiwerk. Zugegeben, das erste Zusammentreffen mit dem Prinzen ist sehr wortreich und die Sindbad-Metapher, welche die große Sehnsucht nach Freiheit beider in dem Song „Wer alles wagt“ zum Ausdruck bringt, bleibt durchaus hängen. Doch vielmehr gibt das Buch für die Titelrolle nicht her. Während es für Abt also kaum Möglichkeiten gibt, sich in den Vordergrund zu spielen, hat Dennis Weißert als Prinz Philipp hier durchaus mehr Chancen. Dass der Prinz keine Lust hat, König zu werden und am liebsten mit Rapunzel durchbrennen würde, um dem vermeintlichen goldenen Käfig zu entfliehen, kann Weißert gut umsetzen. Das entsprechende Solo („Ich hab geträumt“) interpretiert er mit seinem warmen Tenor sehr gut. Seine Mimik bei der Krönungsprobe ist großartig und die rapunzel5sportlichen Einlagen bis hin zum Hiphop von Philipp und seinen Cousins (Swen Prüwer, Benjamin Beckmann, Jan-Werner Schäfer) bekommen extra Applaus.

Herzog Eduard (Prüwer) verfolgt jedoch einen eigenen Plan. Er möchte König werden und greift hier auch zu hinterlistigen Mitteln, um den Hof vom Tod Philipps zu überzeugen. Prüwer kann das Egozentrische dieses Charakters sehr gut umsetzen und wird seiner Rolle als Fiesling mehr als gerecht.

Am Ende sind alle glücklich: Rapunzel lehnt sich gegen Gothel auf, die sich beim Anblick einer Spinne in Luft auflöst. Johanna und Martin können endlich ihre Tochter wieder in die Arme nehmen. Philipp und Rapunzel werden das neue Königspaar.

Wieso sich Gothels Zauber mit ihrem Verschwinden ohne ein weiteres Wort auflösen (Philipp kann wieder sehen, das Energiefeld-Gefängnis von Rapunzel verschwindet) und der nachdrücklich intonierte Freiheitsdrang von Prinz und Rapunzel plötzlich keine Rolle mehr spielt, irritiert nur kurz. Was bleibt ist eine Märchen-Musical-Inszenierung mit einem unerwarteten Focus. Jedoch trägt Masha Karell die Bürde der heimlichen Hauptrolle mit großer Grandezza. Einmal mehr beweist sich, dass einzelne Darsteller den Unterschied machen!

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Amphitheater Schloss Philipssruhe, Hanau
Besuchte Vorstellung: 28. Mai 2016
Darsteller:  Masha Karell, Sophie Euskirchen, Alexander Leder
Musik / Regie:  Shay Cohen / Holger Hauer
Fotos:  Gebrüder Grimm Märchenfestspiele Hanau