home 2017 Nicht wirklich neu, aber dennoch exzellent und sehenswert

Nicht wirklich neu, aber dennoch exzellent und sehenswert

Angekündigt war eine Neuinszenierung von Andrew Lloyd Webbers mannigfach gespielter Rockoper. Fast 36 Jahre nach der Uraufführung ist diese Idee sicherlich auch nicht gänzlich abwegig, obwohl der Stoff an sich natürlich zeitlos ist. Was direkt auffällt ist, dass Iris Limbarth das Stück um mehr als eine Dreiviertelstunde gekürzt hat.

Zur Ouvertüre werden hochaktuelle Nachrichtenausschnitte auf den Gazevorhang projiziert. Auch fast 2000 Jahre nach Jesus’ Kreuzigung suchen die Menschen nach Halt, manche gar nach einem Führer, die sich in Staatsoberhäuptern wie Kim Jong-un, Recep Tayyip Erdoğan oder Donald Trump personifizieren. Im Hintergrund tanzt das Ensemble in zeitgenössischer Kleidung. Ganz klar, wir sind im Hier und Jetzt.

Was ebenfalls in den ersten Minuten auffällt, ist die schlechte Klangqualität der Band. Schlagzeug und E-Gitarren klingen wie durch eine dicke Wattewand abgeschirmt. So etwas ist natürlich gerade bei einem Rockmusical problematisch.

Das Bühnenbild ist schlicht: große Betonwände mit Jesus-Konterfeis und Graffiti-Schriftzügen bilden den Rahmen, Stahltreppen und kaltes, hartes Licht unterstreichen den industriellen Charakter der Umgebung.

Judas’ direkt zu Beginn deutlich werdende Zweifel („Heaven on Their Minds“ / „Weil sie ach so heilig sind“) intoniert Ulrich Rechenbach mit ein wenig angezogener Handbremse, ohne jedoch die damit verbundenen Emotionen herunterzuspielen. Björn Breckheimer ist schon in dieser ersten Szene als Jesus sehr präsent und zeigt stimmlich direkt, wo die Reise mit ihm hingeht.

Ein interessanter Kniff ist, dass Maria Magdalena (Nyassa Alberta) zunächst Judas zuredet, ihn sogar beinahe küsst, bevor sie sich Jesus zuwendet und ihr „Everything’s Alright“ /“Alles wird gut sein“ anstimmt. Dass Judas auf Jesus eifersüchtig wird und dadurch noch mehr Öl ins Feuer gegossen wird, ist ein nicht unspannender Blickwinkel. Alberta hat Soul – nicht nur in der Stimme. Sie spielt sehr einfühlsam und trotzdem stark, eine sehr gute Besetzung!

Ebenfalls eine exzellente Wahl sind Tobias Falk und Joel Scott als Kaiphas und Annas, die mit „This Jesus Must Die“ / „Der Jesus muss weg“ ihren fatalistischen Standpunkt mehr als deutlich machen.

In der Folge feuert Jesus seine Anhänger bei „Hosanna“ regelrecht an – auch eine eher ungewöhnliche Interpretation – und sonnt sich in deren Zuspruch. David Rossteuscher überzeugt als Simon Zelotes sowohl stimmlich als auch tänzerisch. Die Choreographien (ebenfalls von Iris Limbarth) in dieser Szene sind sehr schwungvoll und funktionieren gut.

Die Albtraumszene mit Frank Bettinger als Pontius Pilatus offenbart großes Potential und wirft ein sehr menschliches Licht auf den Statthalter von Judäa, der sich von dem vermeintlichen Erlöser des Volks gleichermaßen angezogen und abgestoßen fühlt. Die anschließende Tempelszene, die von Prostituierten eingeleitet wird, in der Waffen feilgeboten werden und es Geld vom Himmel regnet, ist ebenfalls sehr gut umgesetzt. Die Aussage ist klar: Jesus wird von seinem ausschweifenden Lebensstil eingeholt und seine Anhänger erdrücken ihn nahezu mit ihrer Zuneigung (bemerkenswert inszeniert). Jesus’ wütender Befreiungsschrei geht durch Mark und Bein, Breckheimer legt eine unglaubliche Intensität in Spiel und Gesang.

Wunderschön ist auch Maria Magdalenas Liebeserklärung („I Don’t Know How to Love Him“ / „Wie soll ich ihn nur lieben“), in der Alberta ihre stimmliche Bandbreite vollends nutzt und auch vor schönen stilistischen Ergänzungen nicht halt macht.

Es folgt Judas’ Verrat an Jesus („Damned for All Time“ / „Verdammt für alle Zeit“), der sehr beklemmend inszeniert ist. Judas hat – umringt von Kaiphas und seinen Priestern – keine Möglichkeit zur Flucht und nimmt das „Blood Money“ / „Blutgeld“. An dieser Stelle fällt der Vorhang und der erste Akt ist nach nur 45 Minuten vorbei.

Der zweite Akt beginnt an gleicher Stelle und Rechenbach spielt wiederum sehr intensiv. Stimmlich kann er leider nichts vollends überzeugen, da er die lauten Passagen regelmäßig nicht bis zum Ende aussingt. Dies zeigt sich auch in der Abendmahlsszene, die visuell sehr gut, mit schlichten Elementen dargestellt ist. Breckheimer liefert mit „Gethsemane“ eine wahre Meisterleistung ab, die zurecht zu langem Szenenapplaus führt. Seine Phrasierungen passen ausgezeichnet und seine Interpretation nahe am Wahnsinn sorgt für Gänsehaut.

Die beiden Tribunale, denen sich Jesus in der Folge stellen muss – vor Kaiphas und Pilates und jeweils flankiert von der schlagzeilenhungrigen Presse – sind erneut schlicht, aber wirkungsvoll inszeniert.

„Herodes’ Song“ ist immer ein Highlight der Show und bietet viel Raum für Exzentrik und dem Spiel mit Klischees. In der neuen Wiesbadener Inszenierung ist diese Szene jedoch fast schon klassisch-brav umgesetzt: König Herodes und sein Wellness-Bad sind in weiß gehalten, einzig seine jugendlichen Begleiterinnen und Begleiter schillern in goldenen Kostümen. Uwe Kraus erinnert mir seiner Perücke sicherlich nicht nur zufällig an Donald Trump und sein Habitus hat etwas von Elvis Presley.

Sehr einfühlsam kommt hingegen „Could We Start Again, Please“ / „Lass uns neu beginnen“, gesungen von der kompletten Cast, über die Rampe. Nyassa Alberta kann hier einmal mehr stimmliche Akzente setzen. Auch Judas’ Selbstmord ist mit viel Fingerspitzengefühl umgesetzt worden und hinterlässt ein verstörtes Publikum.

Ebenso denkwürdig sind die „39 Peitschenhiebe“, zu denen Pilates Jesus verurteilt: Breckheimers schmerzverzerrtes Gesicht, die hervorquellenden Augen, umgeben von einer mordlüsternen Meute, die durch das von Kaiphas Priestern verteilte Geld noch angestachelt wird, mit einem Pilates, der sich selbst vor (psychischen) Schmerzen windet, brennt sich nachdrücklich ins Gedächtnis.

Der Titelsong ist auch eher klassisch inszeniert, doch warum auch etwas ändern, das funktioniert? Das Ensemble trägt weiß-glitzernde Kostüme mit schwarzen Glitzerkreuzen auf der Brust und Judas kommt mit blutverschmierten, an Kevin Smith’s „Dogma“ (1999) erinnernde Engelsflügel auf die Bühne. Stimmlich fehlt Rechenbach wie erwähnt das Rockig-Dreckige, doch durch sein intensives Spiel macht er dies weitgehend wett.

Bleibt noch die Kreuzigung, die einzig dadurch befremdlich wirkt, dass neben Jesus am Kreuz nur noch die Band mit Spots von oben beleuchtet ist. Doch irgendwie betont dieses Lichtdesign die disharmonischen, verstörenden Klänge aus dem Orchestergraben nur umso mehr.

Während Breckheimer leidend und blutverschmiert am Kreuz hängt, versammeln sich im Epilog („Johannes 19,41“) seine Anhänger noch einmal um ihn und gedenken Seiner in stummer Ehrfurcht und Scham. Dann endet auch der zweite Akt nach weiteren nur 45 Minuten.

Wirklich viel Neues hält diese Neuinszenierung nicht bereit. Limbarth hat zwar viel gekürzt, doch das karge (vortreffliche) Bühnenbild von Bettina Neuhaus sowie Andreas Franks Lichtdesign und Heike Korns Kostüme ergeben ein Gesamtbild, wie man es in ähnlich harmonischer Form durchaus schon gesehen hat. Auffallend ist, dass man trotz der großzügigen Streichung von über 45 Minuten nicht das Gefühl hat, dass etwas fehlt. Die Charaktere bekommen alle ihren Raum und können sich mit ihren mehr oder weniger exzentrischen Eigenheiten präsentieren.

Zudem hat Limbarth mit ihrem Ensemble – allen voran Björn Breckheimer und Nyassa Alberta – einen echten Glücksgriff gelandet. Auch das Junge Staatsmusical und die Schüler von Breckheimers Mainzer „ Musical Arts Academy of the performing Arts“, die das Ensemble verstärken, tragen zu dem sehr positiven Gesamteindruck bei.

Michaela Flint
gekürzt erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Staatstheater, Wiesbaden
Besuchte Vorstellung: 13. September 2017
Darsteller: Björn Breckheimer, Nyassa Alberta, Ulrich Rechenbach
Musik / Regie: Andrew Lloyd Webber / Iris Limbarth
Fotos: Karl & Monika Forster