home 2006 Pinkelstadt – das Anti-Musical

Pinkelstadt – das Anti-Musical

Das Buch von Greg Kotis liefert die Vorlage für ein Musical, das die Welt nicht braucht.

Die völlig abstruse Handlung um das Recht kostenlos öffentliche Bedürfnisanstalten aufsuchen zu dürfen, garantiert einen amüsanten Abend, der vor allem durch Wolfgang Adenbergs Wortwitz und die hervorragende Cast – allen voran Thorsten Tinney und Katharine Mehrling – besticht.

Im alten Berliner Schloßparktheater steht ein ausgezeichnetes Ensemble im Rampenlicht und performt eines der kuriosesten Musicals unserer Zeit. Greg Kotis Geschichte von staatlich sanktionierten Bedürfnisanstalten, die nach dem “Großen Stunk” nur noch gegen eine permanent steigende Gebühr nutzbar sind – private Örtchen sind verboten – ist eine außerordentlich gut geschriebene an den Haaren herbeigezogene Fiktion. Oder nicht?

Aris Sas als kämpferischer Antiheld Jonny Stark, der so gar nicht musical-like für seine Überzeugungen sterben muss, überzeugt sowohl gesanglich als auch schauspielerisch. Jedoch macht es sein Charakter nicht eben einfach, sich mit ihm als Held der Geschichte zu identifizieren oder ihm in seiner Revolte gegen die GmbHarn & Klo KG nachzueifern.

Gabriele Ramm ist als gestrenge Klofrau Elfriede Fennichfux genauso gut besetzt wie als liebende Mutter, die ihre uneheliche Tochter Freya vor dem Lynchmord der aufgebrachten Revoluzzer schützt. Sara Fonseca wirkt als Freya von Mehrwerth sehr unschuldig und wird dadurch ihrer späteren Rolle als Anführerin der Massen (Ähnlichkeiten mit “Evita” sind absolut gewollt) nicht wirklich gerecht.

Apropos Evita, in Pinkelstadt erlebt das musical-geschulte Publikum viele Aha-Effekte, da einige Szenen einfach aus anderen Stücken kopiert wurden. So feiert man ein – zugegeben etwas ungewöhnliches – Wiedersehen mit den revoltierenden, fahnenschwenkenden Studenten aus “Les Misérables”, trifft Rose und Jack aus dem Hollywood-Blockbuster “Titanic”, erlebt die aufkeimende Liebe zwischen Tony und Maria aus der “West Sidfe Story” mit, sieht Choreographien aus “Fosse” und wohnt der berühmten Balkonszene aus “Evita” bei – nur ohne Balkon versteht sich.

Doch das gesamte Stück würde ohne den Erzähler und Dorfpolizisten Wachtmeister Kloppstock nicht funktionieren. Mit Thorsten Tinney wurde ein charismatischer Darsteller gefunden, der den Wechsel zwischen Erzähler außerhalb der Handlung und dem nur unterschwellig fiesen Wachtmeister von Pinkelstadt ausgezeichnet meistert. Mit vor Selbstironie triefendem Sarkasmus begrüßt er die Zuschauer und macht gleich allen klar, dass sie hier kein Happy-End-Musical erwarten dürfen, bei dem alle glücklich und freudestrahlend von der Bühne gehen.

Unterstützt wird er bei seinen Erläuterungen von Klein Erna (Katharine Mehrling). Als freche Göre mit Berliner Schnauze fragt sie dem smarten Polizisten Löcher in den Bauch und lässt zwischendurch von Zeit zur Zeit ihr Genie aufblitzen.

Genie – das stellen auch Wolfgang Adenberg und Ruth Deny wieder unter Beweis. Ihre bis ins kleinste Detail durchdachten Texte allein wären es wert, dieses Stück zu schauen. Dieses Team sollte viel mehr Stücke gemeinsam bearbeiten – dann käme endlich wieder etwas mehr Anspruch in die sonst so 08/15-übersetzten Musicals.

Die gefälligen Kompositionen von Mark Hollmann tragen ebenfalls dazu bei, dem Zuschauer die an sich recht dramatische Geschichte von Jonny Stark und seinen Mitstreitern leicht verdaulich zu präsentieren.

Das ganze “Pinkelstadt”-Ensemble sprüht vor ansteckender Energie und lässt die Zuschauer vergessen, dass ein komplett überflüssiges Musical sehen, auf das die Welt zum einen nicht gewartet hat und das zum anderen ohne den obligatorischen Moral-Zeigefinger auskommt.

Kurzum: Unerwartet großartige, kurzweilige Unterhaltung auf höchsten Niveau.

Michaela Flint

Theater: Schloßparktheater, Berlin
Premiere: 2006
Darsteller: Katherine Mehrling, Aris Sas, Ilja Richter, Thorsten Tinney
Buch / Musik: Greg Kotis / Mark Hollmann
Fotos: Stage Entertainment