home 2003 Gute Fahrt, Titanic!

Gute Fahrt, Titanic!

Woran auch immer es gelegen haben mag, dass »Titanic« sich in Hamburg nicht behaupten konnte (zu hohe Ticketpreise, zu großes Theater, zu mächtige Konkurrenz in Form von »Mamma Mia!« und dem »König der Löwen«, kein Ohrwurm, keine die Handlung begleitende Personen, mit denen mit gelitten werden konnte, keine Musicalstars im Ensemble oder einfach nur eine ungenügende Vermarktung) – zur Derniere am 04. Oktober 2003 gab es noch einmal ein volles Haus.

Das hervorragende »Titanic«-Ensemble bot auch beim 323. Mal eine künstlerisch einwandfreie, anspruchsvolle Vorstellung. Die bei Dernieren üblichen Scherze und Anspielungen beschränkten sich auf charmante Textänderungen, die den Abschied für alle Beteiligten nur noch schwerer machten.

Auch das Publikum hatte sich etwas Besonderes ausgedacht: Als die Titanic zum letzten Mal vom Hamburger Kai in See stach, versank der Saal in einem Meer aus Taschentüchern, die zum Abschied geschwungen wurden. Viele Darsteller waren darauf nicht gefasst und mussten ganz schwer schlucken.

Auch Maik Klokow, Geschäftsführer der Stage Holding, dem diese Show ganz offensichtlich sehr am Herzen lag, bildete hier keine Ausnahme – im Gegenteil: Wenn es ans Taschentuch-Winken, Szenenapplaus oder Standing Ovations ging, war er immer einer der Ersten die aktiv wurden.

Die bei kurzfristig abgesetzten Stücken zumeist unübliche Anwesenheit von Regisseur Eddy Habbema, Übersetzer Wolfgang Adenberg und Choreographin Kim Duddy adelte die ausgezeichnete Show und das Ensemble auf außergewöhnliche Weise und zeigte mehr als deutlich, dass mit diesem schnellen Ende wirklich niemand in der Stage Holding gerechnet hatte.

Die Geschichte nahm ihren verhängnisvollen Lauf, die Erste Klasse speiste ein letztes Mal im Großen Salon, in dem an diesem speziellen Samstagabend echtes Obst und echte Getränke gereicht wurden.

Mrs. Beane (Iris Schumacher) und das Ensemble tanzten den letzten Rag besonders ausgelassen und Norbert Kohler steigerte den Taschentuch-Verbrauch vor der Pause ins Unermessliche, als er als Frederick Fleet hoch über den Köpfen der Zuschauer in seinem Krähennest das unheilvolle „Kein Mond, kein Wind“ gefühlvoll und ergreifend anstimmte.

Im zweiten Akt häuften sich die Abschiedseinlagen zusehends: Der Teddy von Jack Thayer hatte eine eigene Schwimmweste mit Taucherbrille und Schnorchel bekommen. Robert Köhler hielt den Bären stolz vor seiner Brust und so mancher Darstellerin trieb es beim Anblick dieser herzerweichenden Accessoires die Tränen in die Augen.

Eine eher amüsante Szene war die hektische Flucht der Passagiere zu den Rettungsbooten. So wollte Eleanor Widener (Katja Thiede) das Schiff nicht verlassen, „solange es noch etwas zu trinken an Bord gibt!“ und Caroline Neville (Nicole Baumann) flüchtete gleich mit zwei heimlichen Verlobten. Beide Darsteller des Charles Clarke (Dernieren-Besetzung Andreas Bühring und eigentliche Erstbesetzung Björn Breckheimer) rannten vor ihrer großen Liebe in Richtung Boote und drehten sich zeitgleich um als sie „Charles!“ rief.

Carsten Lepper (Ingenieur Thomas Andrews) änderte den Text seines großen Solos dahingehend ab, dass das Schiff nicht nur noch schneller, sondern von nun an endgültig sinken wird. All diese netten Kleinigkeiten wurden mit donnerndem Szenenapplaus und Standing Ovations bedacht.

Schwermütig und sehr ruhig wurde es im Publikum als Ida und Isidor Straus (Masha Karell und Ulrich Talle) sich noch einmal der schönen gemeinsamen Jahre entsannen und die Angst vor dem bevorstehenden Tod nur allzu deutlich zu spüren war. Die Anspannung ließ auch während des beklemmenden Finales nicht nach, wo die Überlebenden an Bord der Carpathia der Zurückgebliebenen gedachten.

Als die letzte Vorstellung von »Titanic« vorüber war, löste sich bei allen deutlich sichtbar die Anspannung. Viele Darstellerinnen und Darsteller (beispielsweise Leon van Leeuwenberg, Iris Schumacher und Patrick Stanke) konnten ihre Trauer nicht mehr unterdrücken. Zitternd und mit schwacher Stimme setzten sie zu dem herzzerreißenden Abschiedmedley „Wir sehen uns wieder“ an, in dem jeder der Hauptdarsteller noch einmal seine bekannteste Zeile singen durfte.

Besonders schön war, dass Darsteller, die bereits an anderen Theatern engagiert waren, extra für die Derniere noch einmal auf die Bühne der Neuen Flora zurückkehrten. Hierzu zählte Jens Janke als Funker Harold Bride (ab November in Stuttgart bei »42nd Street«) ebenso wie Seth Lerner (seit September bei »Les Misérables« im Theater des Westens auf der Bühne) und ein stimmlich sehr angegriffener Robin Brosch (als Inhaber Bruce Ismay), der seit einigen Wochen als Künstlerischer Direktor der Joop van den Ende Academy fungiert. Eine ebenfalls sehr reizende Geste war, dass die verletzte Katharina Trinkewitza zusammen mit der Dernieren-Besetzung der Damico-Tänzerin Daniela Wildprad auf die Bühne humpelte, um sich von den Gästen verabschieden. Die Kinderdarsteller des Jack Thayer bekamen eine Sondergenehmigung und sagten ihrem Hamburger Publikum ebenfalls Tschüss.

Die bewegenden Abschiedsworte von Company Manager Dirk Terwey machten sehr deutlich wie sehr die Künstler mit den Theater zusammen gewachsen waren und wie ausgezeichnet die Stimmung hinter der Bühne in den vergangenen zwölf Monaten gewesen ist. Doch das Ensemble rund um »Titanic«-Kaptän Michael Flöth verstreut es in alle Himmelsrichtungen: die einen zieht es nach Essen oder Stuttgart, die anderen nach Berlin oder ins nahe gelegene Operettenhaus. Nur sehr wenige bleiben in der Neuen Flora. Wie nach jeder Derniere kann man den Darstellerinnen und Darstellern für ihre zukünftigen Engagements nur viel Glück wünschen und ihnen für die hervorragende Leistung im »Titanic«-Ensemble danken.

Michaela Flint
veröffentlicht in blickpunkt musical

Theater: Neue Flora, Hamburg
Derniere: 4. Oktober 2003
Darsteller: Jens Janke, Carsten Lepper, Patrick Stanke
Regie / Musik: Eddy Habbema / Maury Yeston
Fotos: Stage Holding