home 2011 Kurzweilige, aber immer noch anspruchsvolle Inszenierung

Kurzweilige, aber immer noch anspruchsvolle Inszenierung

„Anatevka“ ist wahrlich keine leichte Kost. Und dass obwohl dem Musical-Genre immer eine gewisse Oberflächlichkeit nachgesagt wird… Die Geschichte des jüdischen Milchmanns Tevje und seinen drei Töchtern tritt hier erfolgreich den Gegenbeweis an.

Joseph Steins Buch stellt seit der Uraufführung 1964 die Theatermacher immer wieder vor Probleme: Eine dunkle und tragische Handlung in ärmlicher Umgebung, getragen von einem herausragenden Hauptdarsteller. Einfach ist das nicht und doch hat es „Anatevka“ in das Standard-Repertoire vieler Stadttheater geschafft.

Mit einer Spielzeit von über drei Stunden müssen die Intendanten und Dramaturgen unseres Landes dem Publikum schon eine gefällige Inszenierung anbieten, um den Spannungsbogen und damit die Aufmerksamkeit über einen so langen Zeitraum aufrecht zu erhalten.

Misslang dies kürzlich in Lübeck noch gründlich, so nahm sich das Hamburger St. Pauli Theater des Stoffs an und schaffte es, die immer noch langatmige Geschichte so auf die Bühne zu bringen, dass man nicht schon in der Pause gehen wollte.

Das Erfolgsrezept liegt im gleichzeitigen Drehen an mehreren Stellschrauben. Zum einen arrangierte Matthias Stötzel viele Stücke frischer und sorgte so für eine „helle“ Momente. Ulrich Waller bewies inszenatorischen Mut und kürzte das Stück an den richtigen Stellen (zugegeben, es hätten durchaus noch ein paar mehr sein dürfen). Zudem konnte das St. Pauli Theater mit einem jungen Ensemble aufwarten, das mit Gustav Peter Wöhler von einem sehr charismatischen und in Hamburg sehr beliebten Hauptdarsteller angeführt wurde.

Das kleine Hamburger Theater gibt einen schönen Rahmen für die Geschichte der kleinen jüdischen Gemeinde, die zunehmend unter den Übergriffen russischer Zarengetreuer zu leiden hat. Die Kulissen sind dementsprechend dunkel gehalten und doch können durch wenige Handgriffe und gut eingesetzte Hintergründe verschiedene Ecken des Dorfs dargestellt werden.

Da die drei Töchter Tevjes sehr schwungvoll und frech angelegt wurden, macht es Spaß, dem gestresste Milchmann beim Hüten seiner Rasselbande zuzusehen. Wöhler spielt die verschiedenen Facetten glaubhaft. Dass er nicht der beste Sänger des Ensembles ist, sieht man ihm daher gern nach.

Das Schicksal der Familie entwickelt sich vor den Augen und durch Tevjes pointierte Monologe gelingt es immer wieder, innezuhalten, das Publikum wieder einzufangen und gemeinsam weiter zu gehen.

Das vielseitig besetzte Orchester unter der Leitung von Matthias Stötzel spielt die schmissigen Melodien von Jerry Bock mitreißend, wo es passt und gefühlvoll dosiert in den ruhigeren Szenen.

Eine einzige Frage bleibt offen: Warum spricht Tevje immer wieder von der Bibel, wo doch die Thora im jüdischen Glauben das entsprechende Glaubensbuch ist. Die Inszenierung zeigt viele klassisch jüdische Handlungsweisen, da ist die Erwähnung der Bibel sehr irreführend.

Doch abgesehen von diesem kleinen Rätsel gefällt diese Produktion des Musical-Klassikers sehr.

Michaela Flint

Theater: St. Pauli Theater, Hamburg
Premiere: 13. April 2011
Darsteller: Gustav Peter Wöhler
Regie / Musikalische Leitung: Ulrich Waller / Matthias Stötzel
Fotos: St. Pauli Theater / NDR