home 2011 Schöne, schlüssige Tourfassung mit herausragenden Darstellern in den Hauptrollen

Schöne, schlüssige Tourfassung mit herausragenden Darstellern in den Hauptrollen

Die in der Spielzeit 2010 / 2011 durch Deutschland, Österreich und die Schweiz tourende Produktion von Frank Wildhorns „Jekyll & Hyde“ ist bereits der 20. Aufguss der deutschsprachigen Version dieses düsteren, brutalen, aber nicht weniger emotionalen und tief berührenden Musicals.

Die Rolle des ambitionierten Wissenschaftlers Dr. Jekyll und menschenverachtenden Mr. Hyde verlangt dem Darsteller einiges ab. Nicht ohne Grund gilt sie als eine der, wenn nicht sogar die anspruchsvollste männliche Rolle im Musicalbusiness. Mit Yngve Gasoy-Romdal wurde von der Direktion Landgraf ein Künstler engagiert, der diese Figur schon in Köln und Magdeburg eindrucksvoll verkörpert hat. Mit Leah Delos Santos als Lisa Carew hat er eine Kollegin an seiner Seite, die schon bei der deutschen Erstaufführung 1999 in dieser Rolle auf der Bühne das Publikum zu Tränen rührte. Komplettiert wird das Leading Trio an diesem Abend durch Anne-Mette Riis, die als Freudenmädchen Lucy für die verruchten Momente des Stücks sorgt.

Bei Tourneeproduktionen macht man leider oft die Erfahrung, dass vor allem an Ausstattung und Technik (Musik, Licht, Ton) gespart wird. Nicht so in diesem Fall! Wildhorns Kompositionen werden von einem Live-Orchester einwandfrei in puren Hörgenuss umgewandelt. Kim Scharnberg (Orchestrierung) und Heiko Lippmann (Musikalische Leistung) leisten hier allabendlich Großes. Das Bühnenbild von Jan Freese ist funktional und dennoch sehr aufwendig. Durch das Auf- und Zuklappen von Seitenelementen entstehen verschiedene Räume für die feine englische Gesellschaft, die Besucher der „Roten Ratte“, Dr. Jekylls Labor usw. Durch die Wahl von teilweise kaputten Sprossenfenstern und Säulen lässt sich der handlungsumspannende Tatort London sehr gut nachempfinden.

Ein ganz großes Kompliment bekommen die Licht- und Tontechniker. Die düstere Stimmung wird vom Licht (Rolf Spahn) perfekt unterstützt. Die Lichtstimmung in den Szenen „Konfrontation“ und „Angst“ muss sich hinter keiner Ensuite-Produktion verstecken. Auch vom Sounddesign kann sich so manch eine fest an einem Haus spielende Musical-Produktion eine Scheibe abschneiden. Stadthallen stellen Tontechniker immer vor besondere Herausforderungen, aber der Klang im Stadeum war brillant.

An den von Court Watson entworfenen Kostümen der feinen Londoner Damenwelt kann man jedoch durchaus Kritik üben. Sie unterscheiden sich in den Farbtönen und Stil kaum von denen der Unterschicht, wie sie die Huren der „Roten Ratte“  oder die Frauen von der Straße tragen. Um die große Distanz zwischen diesen Gesellschaftsschichten zu unterstreichen, hätte man sich mehr Farbenfreude und schöne Kleider bei den Adligen und Reichen gewünscht. Einzig Lisas Hochzeitskleid geht in diese Richtung, wobei man sich doch fragt, ob ein blaues Hochzeitskleid zur damaligen Zeit standesgemäß gewesen wäre.

Die 19 Darsteller auf der Bühne agieren mitreißend – sowohl in Tanz und Gesang. Es macht Spaß ihnen in den verschiedenen Szenen zu folgen. Dass die Tourfassung von Andreas Gergen und Christian Struppeck fast 30 Minuten kürzer ist als die ursprüngliche Bremer Version fällt dabei kaum ins Gewicht. Die Songs, die fehlen, vermisst man kaum. Die Stücke, die an anderer Stelle platziert wurden, runden die Inszenierung ab.

Yngve Gasoy-Romdal zeigt auch in dieser vermeintlich kleinen Produktion sein volles Potential und sorgt im Publikum mit seinem unverwechselbaren Tenor für Jubelstürme. Seine Fangemeinde aus Hamburg und Umgebung ist geschlossen nach Stade gereist, um ihr Idol lautstark zu bejubeln. Aber seine Leistung rechtfertigt jeden noch so langen Applaus. Mit „Dies ist die Stunde“ berührt er tief, seine „Angst“ in der gleichnamigen Szene ist bis in die letzten Sitzreihen greifbar. Dass er die Welt für irr hält, kann man in dieser Szene sehr gut nachempfinden. Die Zerrissenheit zwischen Wissenschaftler und Mörder, zwischen liebendem Verlobten und gleichgültigem Killer spielt Gasoy-Romdal glaubhaft und von der sprichwörtlichen Routine ist in keiner Sekunde etwas zu spüren.

Auch Leah Delos Santos kann als Jekylls unglückliche Verlobte Lisa erfahrungstechnisch aus dem Vollen schöpfen. Ihr warmer, voller Sopran lässt Herzen schmelzen und ihre zierliche Statur weckt bei männlichen Zuschauern ganz sicher den Beschützerinstinkt. Die Liebe zwischen ihr und Jekyll fühlt sich echt an, ihre Sorge um ihren entrückt wirkenden Verlobten teilt man sofort. Das gemeinsame Duett mit Lucy „Nur sein Blick“ gerät zum Showstopper, gleiches gilt für „Nimm mich wie ich bin“, welches sie gemeinsam mit Yngve Gasoy-Romdal intoniert.

Als leichtes Mädchen Lucy Harris steht an diesem Abend Anne-Mette Riis auf der Bühne.  Das unscheinbar wirkende Stimmwunder (Scaramouche und Ozzy in „We Will Rock You“ waren nur zwei ihrer früheren Rollen) lebt das Verruchte und Ungehörige des Rotlichtmilieus in jeder Bewegung aus. Ihre zarte Seite kommt im Song „jemand wie Du“ deutlich zum Tragen; ihre Leidenschaft lebt sie im „Gefährlichen Spiel“ mit Yngve Gasoy-Romdal aus. Einzig, dass „Mädchen der Nacht“, das Duett in dem Lucy gemeinsam mit Puffmutter Nellie über ihr Leben abseits der feinen Gesellschaft lamentiert, in dieser Inszenierung fehlt, muss man bedauernd zur Kenntnis nehmen.

Aus dem restlichen Ensemble spielt und singt sich keiner in den Vordergrund. Alle agieren rollendeckend und stellen in verschiedenen Figuren ihre Vielseitigkeit unter Beweis. Hier hat sich eine perfekt aufeinander eingestimmte Truppe zusammengefunden.

Diese „Jekyll & Hyde“ Inszenierung begeistert und macht Lust auf mehr. Tourneen auf diesem Niveau sind im Musicalbereich leider viel zu selten. Man kann dem Veranstalter eine Fortsetzung daher nur wärmstens ans Herz legen.

Michaela Flint

Theater: Stadeum, Stade
Premiere: 2. März 2011
Darsteller: Yngve Gasoy-Romdal, Anne-Mette Riis, Leah Delos Santos
Musik / Regie:  Frank Wildhorn / Andreas Gergen & Christian Struppeck
Fotos: Hans-Ludwig Böhme