home 2011 Ein überragender Serkan Kaya macht dieses Musical sehenswert!

Ein überragender Serkan Kaya macht dieses Musical sehenswert!

Endlich bringt die Stage Entertainment ihr lange geplantes Wieder-vereinigungs-Musical auf die Bühne! Es ist zwar nicht mit der der Musik von den „Scorpions“ und im Mittelpunkt steht auch nicht die Wende, sondern eine Ost-West-Liebesgeschichte – aber immerhin ist der 20-Jahre-Wiedervereinigungs-Zug nicht ganz ohne den Musicalmulti abgefahren.

Apropos Zug – Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“ kennt ja fast jedes Kind. Dieser und 29 weitere Songs des Panikrockers wurden mehr oder weniger ausführlich in diesem Musical verarbeitet. Einige Titel werden nur angespielt, aber der Großteil wird in die Handlung integriert. Ein Hinweis sei gestattet: Um dieses Musical wirklich genießen zu können, sollte man die Musik von Udo Lindenberg zumindest mögen, besser noch Fan sein.

„Hinterm Horizont“ basiert – zumindest ansatzweise – auf eigenen Erfahrungen von Udo Lindenberg. Als einer der ersten westdeutschen Rockmusiker erhält Udo Lindenberg 1983 die Erlaubnis, ein Konzert in der DDR zu geben. Bei seinem Auftritt im Palast der Republik lernt Udo das junge FDJ-Mädchen Jessy kennen und beide verlieben sich ineinander.

Als Jessys Bruder Elmar bei dem Versuch einen ihrer Liebesbriefe in den Westen zu schmuggeln, verhaftet wird, nutzt die Stasi die Chance das junge Mädchen für ihre Zwecke einzusetzen und rekrutiert sie als „IM Regenwürmchen“. Mit der „Operation Lederhose“ soll der Staatsfeind Udo Lindenberg ausspioniert werden.

In Moskau kommt es zu einem folgenschweren zweiten Treffen des Liebespaares: Jessy wird schwanger! Doch ihre systemtreuen Eltern schaffen es, die verunsicherte Tochter davon zu überzeugen, Udo nichts von seinem Kind zu erzählen und stattdessen den erfolgreichen DDR-Hammerwerfer Marco zu heiraten.

Als sich Udo und Jessy in den Wirren nach der Wende wieder begegnen, zeigt er ihr die kalte Schulter, da er von der Stasi über Jessys Spionage-Tätigkeiten erfahren hat und sehr verletzt ist. Danach haben die beiden sich nicht mehr gesehen.

Alles kommt heraus als Jessy ihre Geschichte einer Nachwuchs-Reporterin erzählt, die auf der Suche nach einer Schlagzeile ist. Nachdem Mareike die Tragweite der bewegenden Erzählungen erkannt hat, drängt sie Jessy dazu, ihrem inzwischen 23-jährigen Sohn Steve die Wahrheit zu sagen und mit ihm nach Hamburg zu fahren, um seinen Vater zu treffen.

Mit Thomas Brussig wurde ein Autor verpflichtet, der bereits einschlägige Erfahrungen mit dem Thema DDR gesammelt hat. „Helden wie wir“ und „Sonnenallee“ haben sowohl im Theater als auch im TV ein großes Publikum erreicht und begeistert.

Die spritzigen Dialoge tragen die Handlung voran, regen zum Nachdenken oder Lachen an und entschädigen für die ein oder andere langatmige Szene.

Regie führt Ulrich Waller, der in Hamburg das St. Pauli Theater und das Hansa Varieté mit leitet und bereits vor fünf Jahren mit Udo Lindenberg an gemeinsamen Shows zusammengearbeitet hat.

Man spürt klassische Theaterregie in vielen Szenen. Sie macht dieses Musical besonders und trägt vielfach dazu bei, dass das Publikum das Gefühl hat, ein reines Theaterstück und kein Musiktheater zu sehen. „Hinterm Horizont“ ist ganz sicher nicht eins von diesen „Gute-Laune-Musicals“, die es in den letzten Jahren in Deutschland im Überfluss gegeben hat. Bei dieser Show kann und sollte man seinen Kopf benutzen, um sich auf die Handlung einzulassen. Denn so lustig die Szenen der Stasi-Mitarbeiter sind – wozu auch die Überzeichnung der beiden Hauptagenten beiträgt – so ernst ist doch der Hintergrund dessen, was bis vor 20 Jahren in der DDR vonstatten ging.

Den Bogen zum Unterhaltungsgenre Musical spannen die Tanzszenen, die sowohl musikalisch (kein Udo Lindenberg, sondern 08/15-Instrumental-Rock) als auch inhaltlich mehr als Lückenfüller fungieren und irgendwie fehl am Platz wirken, da sie den Handlungsfluss unterbrechen. Dennoch greifen die Gewerke Licht, Kulissen, Kostüme und Choreographie hier perfekt ineinander und bilden eine schön anzuschauende Einheit.

Die Bühne mit ihren sparsam, aber effektvoll eingesetzten Kulissen gehört sicher zu den Highlights dieses Stücks. Raimund Bauer nimmt das Lindenberg-Thema in Form eines überdimensionalen Huts auf, der mal mit bespielt wird, mal über dem Geschehen schwebt. Sowohl das Wohnzimmer von Jessy Eltern als auch die aktuelle Küche der „alten“ Jessy werden in Erinnerung an frühe Theaterzeiten auf Podesten in die Bühnenmitte gefahren und stehen dort als einziger Farbklecks inmitten der schwarzen Bühne. Das allgegenwärtige Symbol der DDR – Hammer und Zirkel – ist einschüchternd im Hintergrund platziert und wird farblich in das Gesamtkonzept eingebunden. Doch am beeindruckendsten sind die Leinwände, die links und rechts mit Medienberichten und Videoaufnahmen der 80er Jahre bespielt werden (die Tagesthemen vom 9. November 1989 mit Hanns J. Friedrichs Anmoderation eines „historischen Tages“ sorgen immer noch für Gänsehaut).

Zusammengeklappt an den Bühnenrand gesetzt, stellen die Leinwand-elemente die Mauer dar. Eine wunderbar kreative und zugleich unter-schwellig beklemmende Lösung, die weltbekannte Mauer mit in das Stück zu integrieren.

Trotz der eingesetzten Theaterfinesse und der Erfahrung des Kreativteams bleibt „Hinterm Horizont“ bis hierher ein sehr gut gemachtes Theaterstück.

Wäre da nicht Serkan Kaya, der als Udo Lindenberg alle Kollegen abhängt, ohne sich selbst in den Vordergrund zu spielen. Der aus Musicals wie „Elisabeth“, „We will rock you“, „Chess“ oder „Jesus Christ Superstar“ bekannte Darsteller geht vollkommen in seiner Rolle auf. Kongenial spielt er den Panikrocker, der trotz aller wirren Formulierungen tiefe Gefühle zeigt. Kaya interpretiert die Lindenberg-Songs so authentisch, dass sich manch einer im Publikum fragt: „Ist das der echte Udo?“

In keiner Sekunde hat man das Gefühl, dass Kaya der Rolle seinen Stempel aufdrücken will, sondern er überzeugt vollends mit einer perfekten Imitation ohne auch nur im Ansatz die zahlreichen Gelegenheiten  zu nutzen, die Figur Udo L. zu persiflieren.

Hinter der tiefen Stimme und dem rauch- und whiskygeschwängerten Gesang erinnert nichts an den sympathischen Deutsch-Türken. Unvermeidlich hat der geneigte Musicalkenner Sorge, dass seine Stimme durch dieses Engagement nicht nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen werde.

Diesem so präsenten Hauptdarsteller vermag keiner seiner Kollegen das Wasser zu reichen. Einzig Anika Mauer als „alte“ Jessy und Patrick Stamme als „Irrer“ im Udo L. Casting der Stasi ragen hier heraus. Mauer durchlebt die Vergangenheit der Jessy sehr überzeugend und kann auch gesanglich mit Wärme und Tiefe überzeugen. In einer der lustigsten Szenen sucht die Stasi ein Double für Udo Lindenberg, um damit zu verhindern, dass der Staatsfeind die DDR noch einmal mit einem Konzert heimsucht: Kandidat ‚Kulturkader’ contra ‚wirren Vopo’. Der Dritte – ein Irrer – ist dann zu perfekt, beleidigt den Minister und die Stasi muss erkennen, dass sie Udo Lindenberg nicht verhindern können. Stamme singt und spielt den Irren so echt, dass auch die größten Fans ins Grübeln kommen: „Hat sich Udo einen Kurzauftritt in sein Musical schreiben lassen?“

Die junge Josephin Busch übernimmt die Rolle der jungen Jessy. Leider fehlt es ihr an schauspielerischer Reife, um die Rolle wirklich überzeugend über die Rampe zu bringen. Auch gesanglich ist sicherlich noch Potential vorhanden, denn vor allem in den Duetten mit Kaya schmerzt ihre krächzende Stimme mehr als das man ihr gern lauscht.

Als ihr Bruder Elmar wurde der Schauspieler Christian Sengewald engagiert, der die Rolle des rebellischen Westflüchtlings sehr gut wiedergibt. Sengewald ist nur einer von vielen Schauspielern ohne Musicalerfahrung, die für diese Weltpremiere gecastet wurden. Dieser Schwerpunkt ist für ein Musical sicherlich ungewöhnlich und der Zusammenarbeit mit dem Hamburger St. Pauli Theater zuzurechnen, macht sich in diesem Fall aber bezahlt, da es weniger um gesangliche Fertigkeiten als um ungewöhnliche Charaktere geht, die in den Nebenrollen von Bedeutung sind.

Die Handlung in Form einer durchgängigen Rückblende zu erzählen, macht es dem Zuschauer sehr leicht, dem Geschehen zu folgen. Das Finale im Hamburger Atlantic Hotel im „Hier und Heute“ stattfinden zu lassen, bindet die Liebesgeschichte von Jessy und Udo L. wunderbar ab. Doch eine Frage bleibt: Wie viel Wahrheit steckt in der Geschichte von der Schwangerschaft? Ein Geheimnis, das auch bei der Weltpremiere nicht gelöst wurde.

Michaela Flint

Theater: Theater am Potsdamer Platz, Berlin
Premiere: 13. Januar 2011
Darsteller: Josephin Busch, Serkan Kaya, Andrea Mauer, Patrick Stamme
Musik / Buch: Udo Lindenberg / Thomas Brussig
Fotos: Brinkhoff/Mögenburg / Tine Acke