home 2011 Melancholie und Freude in perfekter Kombination

Melancholie und Freude in perfekter Kombination

Stell Dir vor, Du bekommst zwölf Jahre nach dem Tod Deines Vaters einen Brief von ihm, in dem er Dir die Liebesgeschichte Deiner Eltern erzählt und Dich ganz nebenbei nach dem Sinn des Lebens fragt. Ganz schön viel für einen Teeanger, der mit den üblichen Problemen des Erwachsenwerdens schon genug zu tun hat.

Doch genau dies erlebt der 15-jährige Georg. Zwölf Jahre nachdem sein Vater Jan-Olav unerwartet, viel zu früh verstorben ist, findet seine Mutter Veronika beim Aufräumen einen Brief, den der Vater kurz vorm Tod an seinen Sohn verfasst hat. Beim Lesen dieses Briefs gerät der Teenager auf eine Achterbahn der Gefühle.

Die Geschichten von Vater und Sohn gleichen sich, denn nicht nur der junge Jan-Olav lässt sich durch die Treffen mit dem Orangenmädchen nur zu gern von seinem Medizinstudium ablenken, auch Georg steht vor der schier unüberwindlichen Aufgabe, die hübsche Geigenschülerin Isabell anzusprechen und sie um ein Date zu bitten.

Die Romanvorlage zu diesem Stück stammt von Jostein Gaarder, der das Thema Tod eng mit dem Thema Liebe verbindet und so eine warmherzige Geschichte über das Leben erschafft, in der sich viele Leser in der ein oder anderen Episode wieder finden. Für die Musiktheater-Fassung wurde die komplexe Handlung gestrafft und ein kurzweiliges Vier-Personen-Stück kreiert.

Im Fokus von Christian Gundlachs Buch stehen zwei Parallelhandlungen: Der Medizinstudent Jan-Olav trifft das Mädchen im orangen Mantel mit der Tüte voll Orangen und verliebt sich Hals über Kopf in das „Orangenmädchen“. Die Irrungen dieses Kennenlernens und sich wieder aus den Augen-Verlierens führen von Oslo nach Spanien und wieder zurück. Schlussendlich stellt sich heraus, dass Veronika und Jan-Olav schon als Kinder befreundet waren und Veronika dieses Verwirrspiel geplant hat, damit die beiden Kinder von einst sich neu finden, kennen-, und liebenlernen können.

Georg, angehender Weltraumforscher, Träumer und Teenager-Sohn von Jan-Olav und Veronika, lernt seine erste Jugendliebe Isabell kennen und muss feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, einem Mädchen seine Gefühle zu zeigen – geschweige denn, es erst einmal überhaupt anzusprechen.

In dieser Situation liest Georg den Brief seines Vaters und findet darin das, was ihm bei seiner Mutter fehlt: Verständnis. Zudem erfährt er, dass der neue Mann an der Seite seiner Mutter schon da war, bevor sie seinen Vater kannte. Das wirkt sich nicht unbedingt förderlich auf das abgespannte Verhältnis zu seiner Mutter aus. Dass gerade die ersten Begegnungen mit der Liebe keineswegs nur dramatisch, sondern durchaus auch sehr lustig sein können, wird immer wieder deutlich.

In diesem Brief stellt sein Vater ihm eine bereits in Kindertagen gestellte Frage erneut: Würdest Du geboren werden wollen, wenn Du wüsstest, wie Dein Leben verlaufen wird?

Georg versteht diese Frage erst jetzt richtig und würde sie, wie sein Vater, tendenziell mit „Nein“ beantworten.

Erst als seine Mutter ihm erklärt, dass sein Vater seine Antwort aufgrund von Verbitterung und Schmerz wegen des viel zu früh endenden Lebens gegeben hat, gibt der Junge sich und seinem Leben eine richtige Chance und fasst den Mut, Jasmin um eine Verabredung zu bitten.

Das Stück wird szenisch sehr schlank umgesetzt. Fünf Podeste geben die verschiedenen Spielwiesen der vier Protagonisten ab. Ein großer oranger Mond eignet sich sowohl als romantischer Hintergrund für Jan-Olav und Veronika als auch als Ziel der Sehnsüchte des sternenguckenden Georg. Das Thema Orangen findet sich in in drei Stillleben mit Orangen wieder, die die Nationalgalerie Oslo und den Ort des ersten Treffen von Jan-Olav und Veronika darstellen. Das funktioniert prima und ist für dieses sehr emotionale Stück ideal. Die vielen Orangen, die in Papiertüten herumgetragen oder kunstvollen Pyramiden auf der Bühne drapiert werden, lassen das Publikum in den Genuss eines Dufttheaters kommen und machen dieses Stück nur umso besonderer.

Martin Lingnau hat für die vier Darsteller wunderschöne Balladen geschrieben, die von Piano (Stephan Sieveking) und Cello (Hagen Kuhr) einfühlsam untermalt werden. Auch die Aufgewühltheit wird musikalisch durch diese Instrumenten-Kombination perfekt transportiert und durch poppige Uptempo-Songs über die Rampe gebracht. Erfreulich ist, dass sich Lingnau mit diesem Stück deutlich von seinen übrigen Kompositionen absetzt und der sonst so oft beklagte Wiedererkennungswert kaum vorhanden ist. Die Texte von Edith Jeske könnten an der ein oder anderen Stelle etwas ausgefeilter oder weniger plump sein, doch im Großen und Ganzen überbringen die Texte sowohl die lustigen und romantischen als auch die traurigen Passagen dieses Stücks.

Ein Musical mit einem so philosophischen Ansatz wie „Das Orangenmädchen“ steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit der Darsteller. Anna Katharina Bauer hat in der Rolle der Isabell den undankbarsten Part, da diese Figur eher eine Nebenrolle ist. So fällt sie leider kaum nachhaltig auf. Ihre drei Kollegen hingegen haben alle sehr starke Alter Egos – allen voran Sascha Rotermund als Jan-Olav. Er gibt den verliebten Medizinstudenten genauso überzeugend wie den genervten Ehemann, besticht aber vor allem im Zusammenspiel mit seinem Sohn. Gesanglich bedient Rotermund eine große emotionale Bandbreite. Sein finales Duett mit dem Sohn, in dem er ihm die entscheidende Frage stellt, geht sehr zu Herzen.

Benjamin Hübner hat es als „Halbstarker“ nicht leicht, dieser geballten Manneskraft etwas entgegenzusetzen, doch zeigt er Georgs Zerrissenheit sehr glaubhaft. Hier kommt ihm sicherlich zugute, dass seine Teenagertage noch nicht allzu lange her sind. Das Aufbäumen gegen die überfürsorgliche Mutter ist tragikomisch und nur zu nachvollziehbar.

Katrin Gerken gelingt der Spagat zwischen besorgter Mutter und jugendlichem Orangenmädchen sehr gut, wobei ihr der mütterliche Part deutlich besser zu Gesicht steht. Wenn sie ihrem Sohn die Welt der Liebe erklärt („Eine Leinwand ist kein Bild“, „Wenn Liebe sich ergibt“) ist dies sehr herzerwärmend.

Bei Themen wie dem Tod des Vaters, dem Sohn, der sich gegen die Mutter und deren neuen Mann auflehnt und damit kämpft, seinen Weg im Leben zu finden, könnte man durchaus ins Grübeln geraten. Doch dem Kreativ-Team ist es gelungen, dass Publikum durch viele amüsante und einfühlsam gestaltete Szenen mit einem guten Gefühl aus dem Theater zu entlassen.

Jeder, der Musiktheater mag, in dem die Menschen im Vordergrund stehen und nicht großartige Kulissen und pompöse Orchestrierungen; jeder, der Musicals mag, indem es nicht um seichte Unterhaltung geht, sondern in denen man seinen Kopf durchaus mitbenutzen darf, sollte sich dieses Stück nicht entgehen lassen. Glücklicherweise sind für 2012 weitere Spieltermine in und um Hamburg angesetzt, so dass die Geschichte vom „Orangenmädchen“ noch viele weitere Zuschauer berühren wird.

Michaela Flint

Theater: Altonaer Theater, Hamburg
Besuchte Vorstellung: 29. Dezember 2011
Darsteller: Anna Katharina Bauer, Katrin Gerken, Benjamin Hübner, Sascha Rotermund
Regie / Musik: Harald Weiler / Martin Lingnau
Fotos: Oliver Fantitsch