home 2013 Eher eine kurzweilige Revue als das „neue Hamburg-Musical“

Eher eine kurzweilige Revue als das „neue Hamburg-Musical“

Das neue Musical von Ulrich Waller und Markus Busch möchte „Das Hamburg-Musical“ sein bzw. werden. Es stellt sich unweigerlich die Frage, was genau ein Hamburg-Musical überhaupt ist: eine Milieustudie wie direkt nebenan im Schmidt’s Tivoli (Heiße Ecke) und seit kurzem im Schmidt Theater (Die Königs vom Kiez) oder doch eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der facettenreichen Geschichte Hamburgs? Vielleicht auch eine Liebeserklärung an die schönste Stadt Deutschlands? Ansätze gibt es reichlich und im St. Pauli Theater entschied man sich schließlich für eine Liebesgeschichte vor Hamburger Kulisse.

Ein Zitat aus dem Stück lautet: „Hamburg ist wie ein Spiegelei – in der Mitte ballt sich alles und außen herum ist nur noch die Sättigungsbeilage.“ Das fasst „Linie S1“ ziemlich treffend zusammen. Im Zentrum stehen die kreativen, unerwarteten neuen Arrangements bekannter Songs, die einen – manchmal etwas weit hergeholten – Hamburg-Bezug haben.

Darum herum scharen sich mal mehr, mal weniger schlüssige Szenen vor einem leider sehr dürftigen Bühnenbild.

Luna (rebellische Tochter aus gutem Haus) und Miguel (Sohn eines spanischen Einwanderers) treffen sich zufällig in der S1, der ältesten und längsten S-Bahn-Linie Hamburgs. Man kann mit ihr vom eleganten Westen über das quirlige, touristische Zentrum und den Hafen in den grünen Norden-Osten fahren und lässt dabei mehr als nur eines der so genannten Problemviertel an sich vorbeigleiten.

Während der gesamten Show laufen im Hintergrund Videofilme, die dem Zuschauer verdeutlichen sollen, so sich die Szene gerade abspielt. Leider sind diese Projektionen in einer miserablen Qualität – unscharf, grau, schlecht geschnittene Übergänge – so dass hier kein wirklicher Mehrwert zu erkennen ist.

Der S-Bahn-Wagon, die Haltstellen und einige wenige bekannte Ecken Hamburgs erlauben es den Kreativen alle Vorurteile, Klischees und Wahrheiten über die Bewohner einzelner Hamburger Stadtteile aufzuzeigen: Da sind die „Elbletten“ – Mädchen aus den reichen Häusern der Elbvororte, gelangweilte, geltungssüchtige Ehefrauen erfolgreicher Geschäftsmänner, Barmbeker Jungs mit Migrationshintergrund, netzwerkende Politiker, aufgetakelte Prostituierte, stadtstreichende Penner, komasaufende Jugendliche auf dem Kiez und Grufties auf dem Friedhof Ohlsdorf.

Ein roter Faden ist nicht erkennbar – weder in der Handlung selbst noch in der Art wie die Szenen aufeinander aufbauen. Wer nicht aufpasst oder sich in Hamburg nicht auskennt, verpasst schnell die teilweise verschachtelt verpackten Klischees.

Dass Hamburg eine Touristenhochburg ist, zeigen die scheinbar wahllos in die Handlung integrierten Schwaben, Hessen, Bayern und Berliner Besucher, denen sich Hamburgs kühler Charme zunächst nicht wirklich erschließt. Am besten gelungen sind hier noch die beiden Berliner Herren, die sehr treffsicher mit den Vorurteilen beider Städte spielen.

Leider zünden viele Witze nicht so wie sicherlich von den Autoren erhofft. Bspw. wird auch in diesem Stück die allgegenwärtige, liebevoll gepflegte „Feindschaft“ zwischen den Anhängern des HSV und des 1. FC St. Pauli thematisiert, doch der zustimmende Beifall von den sicherlich im Publikum reichlich vorhandenen Paulianern bleibt aus.

Dass im Buch zahlreiche aktuelle Themen wie die Elbvertiefung, die Bundestagswahl, das Milliardenloch Elbphilharmonie verarbeitet werden, hebt den Anspruch. Auch dass offenbar bewusst mit dem Vorurteil gebrochen wird, dass Jugendliche von heute – zumal mit Migrationshintergrund – nicht gebildet seien (zwei an das Comedy-Duo Erkan & Stefan erinnernde Jungs lesen die Financial Times Europe), zeigt, dass man hier durchaus eine Botschaft platzieren möchte.

Doch die Stars des Abend sind Musik und Tanz.

Kim Duddy ist eine weltweit anerkannte Könnerin ihres Fachs und stellt in „Linie S1“ ihre Vielseitigkeit unter Beweis. Herausragend sind vor allem das Gothic-Ballett zu „Hamburg 75“ von Element of Crime und die Party, die die Tänzer zu Scooters „Maria (I like it loud)“ entfesseln.

Nur wenige Szenen bleiben im Gedächtnis und dies auch nur, da die Songs außergewöhnlich oder sehr stimmig arrangiert wurden, wofür Matthias Stötzel verantwortlich zeichnet. Hierzu zählt im ersten Akt das bekannte „La Paloma“, das jedoch im spanischen Original (Sebastian Yradier) vor dem Hintergrund einer einzelnen Taube an der Binnenalster vorgetragen wird.
Auch die Kneipenszene zu Beginn des zweiten Akts, wo in bester Hans Albers Manier zum Schifferklavier philosophiert und gesungen wird, wirkt authentisch und besticht durch das richtige Maß an Komik.

Während der Text von Hildegard Knefs „Ich bin zu müde“ etwas holprig daherkommt, taucht Stötzels Arrangement das St. Pauli Theater in eine wundervoll swingende Grundstimmung. Den größten szenischen Treffer landet „Linie S1“ mit „An den Landungsbrücken raus“ von Kettcar. Die Textzeile „Dieses Bild verdient Applaus“ kann jeder, der schon einmal vom Musicaltheater im Hafen auf die Hamburger Skyline geschaut hat, nur unterschreiben.

Überhaupt ist es die exzellente Band unter Stötzels Leitung, die den Abend zumindest phasenweise zum Genuss macht. Verschiedenste Stilrichtungen werden gleichermaßen fehlerfrei und begeisternd intoniert. Stötzel kann aus dem Vollen schöpfen und verlangt seinen Bandkollegen eine große Bandbreite ab, ohne sie jedoch zu überfordern.

Die Darsteller mühen sich redlich, den großen Anspruch eines Hamburg-Musicals zu erfüllen und doch bleiben sie die meiste Zeit blass. Trotz oder gerade wegen der 70 Rollen, in die sie im Laufe des Abends schlüpfen, gelingt es den 15 Darstellern kaum, einen Wiedererkennungswert zu erzeugen oder einen speziellen Charakter hervorzuheben. Aus der Menge stechen allenfalls Peter Franke und Georg Meyer-Goll hervor, die als Senatoren, Penner und Hamburger Urgesteine überzeugen. Gleiches gilt für Victoria Fleer, deren Spielfreude als Punk genauso ansteckend ist wie als Bordsteinschwalbe.

Die beiden Hauptakteure verschwinden hingegen komplett in der Masse – fast wie bei einer richtigen S-Bahn-Fahrt. Dies liegt sicherlich nicht daran, dass Anneke Schwabe und Luk Pfaff ihr Handwerk nicht beherrschen; vielmehr ist die schwache Personenregie eine Ursache dafür sowie das vielfach lückenhafte Buch, das es schwer macht, Zusammenhänge sofort zu erkennen oder Handlungen nachzuvollziehen. Auch eine Liebesgeschichte erzählt sich nicht „mal eben so“.

„Linie S1“ ist laut Programmheft der Versuch, ein Musical über die Stadt Hamburg zu machen, das sich nicht nur mit deren touristischem Kern St. Pauli befasst. Doch wirklich gelingen mag dies nicht, spielt doch eine Mehrheit der Szenen auf und um die Reeperbahn herum und die städtischen Randgebiete spielen nur eine untergeordnete Rolle. Die Idee einer S-Bahn-Reise durch Hamburg bietet viel Potential. In diesem Fall vielleicht schlichtweg zu viel.

Das Spiegelei-Bild trifft es ziemlich genau: Manchmal ist es eben doch sehr gut, wenn man sich auf die Mitte konzentriert und nicht zwanghaft alles andere Drumherum auch noch erwähnen möchte. So ist „Linie S1“ weder Fisch noch Fleisch; eine unterhaltsame Revue kann man erkennen, aber leider nicht mehr.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: St. Pauli Theater, Hamburg
Premiere: 8. September 2013
Darsteller: Anneke Schwabe, Luk Pfaff, Victoria Fleer, Peter Franke, Georg Meyer-Goll
Regie / Arrangements: Ulrich Waller / Mathias Stötzel
Fotos: Frank Siemers