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In the Heights

Quiara Alegría Hudes Musical erzählt die Geschichte von Usnavi, der als Kind mit seinen Eltern aus der Dominikanischen Republik in die USA gekommen ist und seitdem in „Washington Heights“, einem durch die dominikanische Bevölkerung geprägten Stadtteil New Yorks, lebt. Da seine Eltern schon früh in seiner Kindheit starben, wird er von Abuela Claudia großgezogen und erarbeitet sich mit seiner Bodega einen festen Platz in der Gemeinschaft. Doch für ihn steht fest, dass er eine Tages in seine Heimat, an die er kaum Erinnerungen hat, zurückkehren möchte. Ein unerwarteter Lottogewinn lässt diesen Wunsch real werden.

Doch kann Usnavi, der seinen ungewöhnlichen Namen einem Boot der US Navy verdankt, welches seine Eltern bei der Überfahrt in die USA gesehen haben, seine Freunde zurücklassen?

Da sind die Rosarios, die in eine ernste Krise schliddern, nachdem Tochter Nina das College hinschmeißt und sich in Benny verliebt – einen Afroamerikaner, der schon lange in der Firma ihres Vaters arbeitet. Vater Kevin ist damit alles andere als einverstanden. Er überwirft sich mit seiner Frau Camila, die sehr enttäuscht ist, dass Kevin eigenmächtig entschieden hat, die Firma zu verkaufen, um Nina das Geld fürs Studium zu geben.

Außerdem gibt es noch den unermüdlichen Piragua Guy, der mit seinem Piragua Stand gegen die großen Ketten ankämpft und Daniela, die sich notgedrungen entschieden hat, ihren Frisörsalon in die Bronx zu verlegen, da sie in den Heights kein Geschäft mehr macht. Das wiederum stellt Carla und Vanessa vor große Probleme, da beide in Danielas Salon arbeiten. Apropos Vanessa… Usnavi ist schon lange in die selbstbewusste Schönheit verliebt, traut sich aber nicht, ihr das zu sagen. Erst sein Mündel, Cousin Sonny, bringt mit seinem frechen Mundwerk etwas Bewegung in die Sache…

Jeder scheint mit sich selbst, mit seinem eigenen kleinen Drama beschäftigt. Doch dann stirbt Abuela Claudia. Die Freunde kommen in großer Trauer zueinander. Sie halten für einen Moment inne und reflektieren die letzten Tage und Wochen.

In Folge dieses tragischen Zwischenfalls gelingt es den Rosarios sich auszusprechen: Kevin und Camila verkaufen ihre Firma und Nina erklärt sich bereit, das Geld anzunehmen und wieder aufs College zu gehen. Nina setzt sich in der Wahl ihres Freundes durch und bleibt an Bennys Seite, der sie nach Standford begleiten und sich dort einen Job suchen wird. Daniela schließt ihren Salon. Usnavi räumt seine nach einem Überfall völlig verwüstete Bodega auf und ist mehr denn je überzeugt davon, die Heights zu verlassen. Wenn alles auseinander bricht, was hält ihn dann noch hier?

Doch Sonny, der nicht möchte, dass sein Onkel geht, kommt eine Idee… Über Nacht lässt er von seinem Kumpel Graffiti Pete die Front der Bodega mit dem Konterfei von Abuela Claudia verzieren. Als Usnavi dieses ergreifende Memorial erblickt, ändert er seine Meinung. Er fasst sich ein Herz und gesteht Vanessa seine Liebe. Usnavi ist zuhause angekommen!

„In the Heights“ hat viel dramatisches Potential, aber auch eine nicht von der Hand zu weisende Tendenz zu Klischees. Doch Quiara Alegría Hudes hat die Charaktere sehr sympathisch erschaffen. Die vorlaute Sexbombe Daniela ist zwar genau so ein wandelndes Klischee wie der im Arbeitsleben starke Kevin, der aber zuhause von seiner Frau Camila ordentlich zurecht gestutzt wird. Dennoch wirken die Figuren ungemein glaubwürdig.

Eine so liebevolle Oma wie Abuela Claudia wünscht sich sicherlich jeder. Und dass Teenager, gleich welches kulturellen Hintergrundes, ihren Gefühlen folgen und daher nicht selten irrationale, für Eltern schwer akzeptierbare Entscheidungen treffen, kann auch jeder nachvollziehen. Jeder findet sich spielend in diesen Charakteren und ihren Problemen wieder. Schließlich ist da noch Usnavi, die gute Seele, die sich beim Kümmern um andere fast selbst vergisst. Ein starker Mann, dem schon nach der Ouvertüre die unverrückbare Sympathie des Publikums gehört.

Lin-Manuel Miranda hat die Songs und Songtexte zu diesem im Jahr 2008 am Broadway uraufgeführten Musical geschrieben. Neben den zu erwarteten Latino-Klängen besticht sein Werk vor allem durch die zahlreichen Raps, die das raue Klima widerspiegeln, in dem die Freunde leben und von denen der erste („In the Heights“) direkt dazu genutzt wird, die verschiedenen Charaktere vorzustellen.

Schon an dieser Stelle tobt das mehrheitlich junge Publikum im King’s Cross Theatre. Die ca. 500 Zuschauer sitzen links und rechts der Bühne und machen das Geschehen in der Mitte dadurch noch kompakter und intimer.

Die Energie des Ensembles ist auch kurz vor dem Ende der Londoner Spielzeit (Derniere nach 15 Monaten am 8. Januar 2017, obwohl ursprünglich nur vier Monate geplant waren) ansteckend. Die acht sehr jungen Tänzerinnen und Tänzer wirbeln zu vollkommen authentisch wirkenden Choreographien (Drew McOnie) über die kleine Bühne. Ihre Kostüme (Gabriella Slade) wirken ebenso echt – man könnte meinen, sie seien kurz von der Straße hereingekommen. Dass sich hiervon insbesondere junges Publikum angesprochen fühlen, ist nachvollziehbar.

Die Besetzung ist – wie in London üblich – erstklassig. Norma Atallah gibt die herrlich schrullige, aber nicht weniger liebenswerte Abuela Claudia. Sie ist gesanglich nicht so stark, macht das aber durch ihre sehr sympathische Art spielend wett.

Gabriela Garcia wirkt auf den ersten Blick wie Jasmine, die ihren Aladdin zugunsten von „In the Heights“ verlassen hat. Doch sie verleiht Nina genau die richtigen Emotionen: Selbstzweifel zu Beginn, zuckersüßes Verliebtsein in Benny, ehrliche Trauer um Abuela Claudia und Durchsetzungskraft gegenüber ihren Eltern. Zudem hat die Mexikanerin, die erst 2012 ihre Ausbildung in London beendete, eine wunderbare Stimme, die perfekt zu Mirandas Kompositionen passt.

Dass Regisseur Luke Sheppard schauspielerisch aus dem Vollen schöpfen konnte, belegen auch David Bedella und Juliet Gough, die als Ninas Eltern Kevin und Camila die ein oder andere intensive verbale Auseinandersetzung haben. Kevin fühlt sich „Useless“ und Bedella kann diese Zerrissenheit zwischen liebendem Vater und Familienoberhaupt mit seiner rauen Stimme und dem schön rollenden „r“ auch gesanglich gut rüberbringen. Sein ehelicher Counterpart Camila explodiert sehr eindrucksvoll: In dem Song „Enough!“ nimmt sie sich erst ihren Mann und dann ihre Tochter vor. Gough legt hier eine beeindruckende, aggressive Intensität an den Tag.

Auch Arun Blair-Mangat muss als Benny durch ein Wechselbad der Gefühle: Er hat große Ambitionen, was seine berufliche Zukunft angeht, lernt extra Spanisch, um den Vater seiner Angebeteten zu beeindrucken, und muss die Zurücksetzung durch Kevin erleben, da dieser offenbar findet, dass Benny trotz all seiner Bemühungen nicht gut genug für Nina ist. Er durchleidet Phasen der Eifersucht und großer Zuneigung. Blair-Mangat hat eine sehr offene, positive Ausstrahlung und kommt beim Publikum augenscheinlich sehr gut an. Zudem singt er auch sehr sauber, was insbesondere in Duetten mit Gabriela Garcia („When you’re home“, „Sunrise“) ein Ohrenschmaus ist.

Aimie Atkinson, die tatsächlich schon als Jasmine in „Aladdin“ auf der Bühne stand, gibt die leicht prollige Vorzeige-Latina Daniela. Sie setzt gekonnt ihre Reize ein und weiß, wie sie Männer um den Finger wickelt. In „No me diga“ entfesselt sie zusammen mit den anderen Leading Ladies einen Sturm an Energie und kann hier wie auch in dem späteren „Carnaval del Barrio“ zumindest ansatzweise zeigen, was gesanglich in ihr steckt. Dass Daniela jedoch auch Tiefgang hat, zeigt sich als sie für die dauer-klamme Vanessa (Sarah Naudi) einen Mietvertrag unterschreibt und ihr somit das Bleiben in den Heights ermöglicht.

Im Mittelpunkt steht jedoch Sam Mackay, der die Rolle des Usnavi schon bei der Off West End Premiere im Mai 2014 im Southwark Playhouse spielte. Zur Cast gehörte damals auch schon David Bedella, ebenfalls als Kevin. Mackay wirkt unscheinbar, „der nette Typ von nebenan“ eben, doch er kann Usnavis Sehnsucht nach seiner Heimat genauso glaubwürdig über die Rampe bringen, wie dessen ausgeprägtes Bedürfnis nach Harmonie und die schüchterne Liebe zu Vanessa.

Komponist und Texter Miranda hat die Rolle von Usnavi am Broadway selbst gespielt, da liegt die Latte naturgemäß für jeden Darsteller, der nachfolgt, sehr hoch. Doch Mackay gibt der Figur etwas Unverwechselbares, viel Sanftheit und Tiefe. Dass er zudem noch die zahlreichen Raps überzeugend abfeuert, bestätigt, dass er genau die richtige Wahl für diesen tiefgründigen Charakter war.

Beklemmend gut hat Sheppard den Moment inszeniert, wo nach dem Stromausfall alle nach Nina suchen, die die Nacht mit Benny verbracht hat. Handys und Taschenlampen sind das einzige, was in dieser Szene („Blackout“) den Raum erhellen.

Auch der Song „96000“, in dem Usnavi allen von Abuelas und seinem Lottogewinn erzählt, gehört zu den schwungvollen Highlights. Alle träumen davon, was sie mit soviel Geld anfangen würden. Eine großartige Performance dieses Songs hat die Cast auch bei den 40. Laurence Olivier Awards 2016 abgeliefert.

Großartig ist der „Carnaval del Barrio“ mit dem Usnavi versucht, die auseinander driftende Gemeinschaft wieder zusammenzubringen. Sheppard reichen zwei Rolltreppen, um für eine andere Atmosphäre zu sorgen. Einmal mehr begeistert die Energie der Tänzerinnen und Tänzer in ihren modernen, federleicht wirkenden Choreographien.

Musikalisch hat Miranda Anleihen bei „Rent“ gemacht (u. a. „Sunrise“). Auch, dass alle aufgrund eines Todesfalls wieder zusammenkommen („Alabanza“), erinnert an Jonathan Larsons Hit-Musical. Das Duett von Usnavi und Nina als sie gemeinsam in den Fotokisten von Abuela Claudia stöbern („Everything I Know“) ist traurig, von beiden sehr gefühlvoll interpretiert und der ein oder andere Zuschauer wischt sich verstohlen eine Träne weg.

Am Schluss feiern alle Nachbarn gemeinsam, dass Usnavi doch bleiben wird. Das „Finale“ ist noch einmal eine einzige große Party, in der lateinamerikanische Tänze und die den Latinos eigene, feurige Energie auf das Publikum übergreifen.

Wie immer stellt sich die Frage: Was nehme ich aus dieser Show mit? Im Fall von „In the Heights“ ist die Antwort glasklar: Diese Produktion besticht durch die mitreißende Energie des Ensembles, die authentischen Charaktere, die von sehr sympathischen Darstellern gespielt werden, unerwartet abwechslungsreicher Musik und Choreographien, von denen man noch viel mehr sehen möchte.

Michaela Flint

Theater: King’s Cross Theatre, London
Besuchte Vorstellung: 5. Januar 2017
Darsteller: Norma Attalah, Aimie Atkinson, David Bedella, Johnny Bishop, Arun Blair-Mangat, Damian Buhagiar, Gabriela Garcia, Juliet Gough, Sam Mackay, Sarah Naudi
Buch / Musik & Text / Regie: Quiara Alegría Hudes / Lin-Manuel Miranda / Luke Sheppard
Fotos: Johan Persson