home 2014 Erfolgreicher Transfer von der Schweiz nach Norddeutschland

Erfolgreicher Transfer von der Schweiz nach Norddeutschland

Bereits 2007 wurde die Geschichte des zwölfjährigen Giorgio, der sein Leben als Kaminfegerjunge in Zwangsarbeit und Hunger im Mailand des 19. Jahrhunderts fristet und mit seinen Freunden, den „Schwarzen Brüdern“, die Flucht vor seinen Peinigern wagt, um in seine Heimat zurückzukehren, in der Schweiz uraufgeführt. Sieben Jahre später inszeniert Autor Mirco Vogelsang nun auch die Deutschlandpremiere auf Schloss Bückeburg.

Das fürstliche Schloss bietet eine wunderbare Kulisse für die Schornsteine, Taverne, das Haus von Giorgios Meister sowie den Mailänder Marktplatz. Die Kulissen (Harry Behlau) sind teilweise so passend in die Fassade des Schlosses eingearbeitet, dass man schon sehr genau hinsehen muss, um zu erkennen, dass Dachschindeln und Schornsteine „angebaut“ wurden.

Was direkt zu Beginn auffällt, sind die raumgreifenden Choreographien von Sabine Lindlar, die – nicht nur wegen des Schornsteinfeger-Hintergrunds – mehr als einmal an die Leichtigkeit von „Mary Poppins“ erinnern. Auch die Polonaise der Kaminkehrer-Buben („Frisch ans Werk“) ist wunderschön anzuschauen.

Musikalisch lässt sich das Stück schwer einordnen. Von poppigen Ensemblenummern über rockige Duette bis hin zu gefühlvollen Balladen ist alles vertreten. Einen roten Faden lässt Georgij Modestov in seiner Komposition vermissen. Doch dem musikalischen Leiter Andreas Papst gelingt es, mit seinem 14-köpfigen Orchester einen beachtlichen Klangteppich zu schaffen, auf dem sich die dramatische Handlung entwickeln kann.

Aus dem Ensemble ragt ganz klar Jasper Klein als Giorgio heraus. Er ist in fast jeder Szene auf der Bühne und hat ein beachtliches Gesangs- und Schauspielpensum zu bewältigen. Während der Jungdarsteller schauspielerisch seinen erwachsenen Kollegen in keinster Weise nachsteht, hat er stimmlich seinen Weg noch nicht gefunden. Er wechselt zwischen seiner vollen, emotionalen Bruststimme und der kindlichen Kopfstimme, was den Genuss so manches Songs arg in Mitleidenschaft zieht.

Als väterlicher Freund steht ihm Thorsten Tinney als Meister Rossi zur Seite. Er gibt einen herzensguten Meister, der sich einerseits rührend um „seinen Buben“ kümmert, sich gleichzeitig aber dem egoistischen Wesen seiner Frau erwehren muss, die alles dafür tut, dass ihr Kronsohn Anselmo die beste Behandlung erfährt. Als eben jene Frau Rossi steht eine bild- und stimmgewaltige Maite Kelly vor dem Fürstenschloss. Wenn sie die Bühne betritt, hat niemand anderer mehr Raum. Sie erinnert in ihrem burschikosen Wesen an Madame Thénardier aus „Les Misérables“. Ihr rhythmisches Frühlingszwiebel-hacken im zweiten Akt ist wahrlich zum Zungeschnalzen. Was dieser Figur jedoch etwas abgeht, ist die Liebe zu ihren Kindern – auch zu ihrer an Schwindsucht erkrankten Tocher Angeletta. Das ist sehr schade, denn diese zusätzliche Facette hätte Mutter Rossi sicherlich noch interessanter gemacht.

Anselmo und Angeletta werden von Andreas Röder und Sandra Pangl gespielt. Beide spielen rollendeckend, entwickeln Emotionen und können das Publikum überzeugen. Gesanglich kann sich jedoch nur Pangl hervortun, die mit dem Solo „Dezemberwind“ einen der schönsten Titel des Stücks singen darf.

Giorgios besten Freund Alfredo, den im Verlauf des Stücks der permanent eingeatmete Russ umbringt, spielt Janko Danailow. Ihm gelingt es, viel Gefühl in das harte Leben der Kaminkehrer zu bringen. Er spielt sehr einfühlsam und man glaubt ihm die Beschützerrolle sofort. Sein sanfter Tenor passt ideal zu Modestovs Kompositionen und man lauscht ihm gern. In der Szene, die er auf dem Schlossdach spielt, richten sich alle Augen gebannt auf ihn und man wagt ob der Intensität des Songs und der Inszenierung kaum zu atmen. Bleibt nur zu hoffen, das sich der sehr echt klingende Husten nicht doch dauerhaft auf seine Stimmbänder auswirkt.

Ein schöner Kniff der Regie ist es, den Kinderhändler und den Retter der Schwarzen Brüder von demselben Darsteller spielen zu lassen. Während Peter Zeug als fieser Luini jedoch leider nicht gänzlich überzeugen kann, gelingt ihm dies als Dr. Casella in jeder Szene. Der Wandel vom geringschätzenden Alkoholiker zum hilfsbereiten, sorgsamen Arzt ist beachtlich. Die Szene „Na, wie wär’s?“, in der Giorgio von Dr. Casella komplett neu eingekleidet wird, ist wahrlich herzerwärmend.

Das Stück endet mit einem Happy End für Giorgio und einige seiner Freunde. Andere fallen leider der Schinderei ihrer Meister und der gefährlichen Aufgabe als Kaminkehrer zum Opfer. Zum Schluss erlebt der Zuschauer, dass die Hilfe des Arztes jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist: Luini treibt wieder neue Buben in die Stadt, die meistbietend verkauft werden, Familie Rossi lebt auch weiterhin in ständigem Streit und alles beginnt von vorn.

Leider war die Vorstellung nicht ausverkauft, was der Leistung des Ensembles und des Kreativ-Teams in keiner Weise gerecht wird. Vielleicht liegt es an den doch beachtlichen Ticketpreisen von bis zu 99 Euro. Vielleicht muss es sich aber auch erst noch herumsprechen, dass man im Schloss Bückeburg hochklassiges Open Air Musical erleben kann. Der Anfang ist gemacht, man darf gespannt sein, was die neue Saison in Bückeburg für die Zuschauer bereithält.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Open Air Bühne, Schloss Bückeburg
Besuchte Vorstellung: 29. August 2014
Darsteller: Janko Danailow, Maite Kelly, Jasper Klein, Thorsten Tinney, Peter Zeug
Musik / Regie: G. Modestov / M. Vogelsang
Fotos: stappenbeck-foto.de