home 2014 Ein klarer Beweis, dass es Deutschland an Kreativität im Musicalbusiness nicht mangelt

Ein klarer Beweis, dass es Deutschland an Kreativität im Musicalbusiness nicht mangelt

Schon seit 1995 gibt es in New York die „24 Hour Plays“, ein jährlicher Event bei dem Kreative binnen 24 Stunden ein komplettes Theaterstück schreiben, einstudieren und zur Aufführung bringen. Da war es nur logisch, dass irgendwann auch die Musicalszene auf diesen Zug aufsprang und seit 2009 gibt es die jährliche Benefiz-Gala „The 24 Hour Musicals“ in New York. Schon 2012 wurde dieses Konzept auch im Old Vic Theatre in London aufgenommen und am 3. November kam auch Deutschland endlich in den Genuss dieses so kreativen Musical-Programms.

Die Idee klingt einfach, stellt aber eine große Herausforderung an alle Beteiligten dar: Binnen 24 Stunden sollen von vier Teams vier Musicals neu geschrieben, komponiert, geprobt, inszeniert und in jeweils 30 Minuten aufgeführt werden. Die Ahrensburger Musical Creations Entertainment von Jacqui Dunnley-Wendt und Hauke Wendt hat die Initiatoren der The 24Hour Plays, Philip Naudé und Kelcie Beene, als Produzenten gewinnen können und der Ahrensburger Bürgermeister Michael Sarach hat nur zu gern die Schirmherrschaft für diese Benefizveranstaltung zugunsten der Kinder- und Jugendarbeit der Lebenshilfe Stormarn übernommen.

Die im Vorfeld bekannt gewordenen Darsteller und Kreativen zogen viele Zuschauer aus dem Großraum Hamburg an und so platzte der Alfred-Rust-Festsaal in Ahrensburg an diesem Abend aus allen Nähten. Die Anspannung vor und hinter der Bühne war allgegenwärtig. Würde das Experiment gelingen? Würden die vier Musicals rechtzeitig fertig sein? Wie würde das Publikum auf dieses in Deutschland bisher gänzliche unbekannte Programm reagieren?

Die kurze Antwort lautet: Die ersten deutschen „24-Stunden Musicals“ waren ein voller Erfolg für alle Beteiligten! Aber schauen wir uns den Abend im Detail an…

Den Auftakt machte Das Stück „Der Schwan“ aus der Feder von Kevin Schröder (Buch) und Lukas Höfling (Musik), mit Nicky Wuchinger, Martin Pasching, Andy Bieber und Marja Hennicke als der von den drei Herren angebetete Schwan. Das Stück spielt auf einem Jahrmarkt / Rummelplatz, auf dem drei Männer um die Gunst einer sehr selbstbewussten Dame buhlen. Sie stellt den Dreien Aufgaben, wie eine Achterbahnfahrt oder Zielwerfen, in denen sie ihre Männlichkeit unter Beweis stellen sollen. Doch so unterschiedlich die drei Herren auch sind – Nicky Wuchinger ist der kraftvolle Schönling, Martin Pasching gibt den intellektuellen Schöngeist und Andy Bieber überzeugt als esoterisch angehauchter Yogi – keiner von ihnen vermag den schönen Schwan für sich zu gewinnen. Am Schluss enden alle drei als Schießbudenfiguren, die vom Publikum „abgeschossen“ werden.

Die Geschichte wird in gut 30 Minuten mit vier Songs erzählt. In Erinnerung bleiben inszenatorische Ideen von Geriet Schieske, wie die lustige Achterbahnfahrt, Nicky Wuchingers „Leistung“ beim „Hau den Lukas“ oder Andy Biebers Fahrt in der Geisterbahn. Herzlich lachen musste das Publikum als Bieber als Yogi / Buddhist folgende Weisheit zum Besten gab: „Ich würde mich ja umbringen, aber ich werde sowieso wiedergeboren!“

Schade war, dass man die Souffleuse auch im Publikum sehr deutlich hörte. Dies führte mehrfach zu Irritationen.

Nach diesem guten Auftakt folgte das Highlight des Abends: „Was kleines Gemeines“ von Titus Hoffmann (Buch), Thomas Borchert (Musik) und Jacqui Dunnley-Wendt (Regie).

Drew Sarich sammelt als ‚Prinz von Ab und Zu‘ Prinzessinnen wie andere Leute Porzellankatzen. Ihm fehlen nur noch Aschenputtel (Diana Mercoli Böge), Schneewittchen (Silke Braas) und Dornröschen (Lisa Antoni), um „die 100 voll zu machen.“

Schon in der (etwas zu langen) Ouvertüre kann Thomas Borchert seine musikalische Urheberschaft nicht verhehlen. Jazz- und Swing-Klänge ziehen sich durch alle 5-6 Songs und sorgen für wippende Füße im Publikum und viel Schwung auf der Bühne. Mit viel Humor und Selbstironie verleihen die vier Darsteller ihren Charakteren Leben. Drew Sarich hat sichtlich Spaß daran den chauvinistischen Prinzen zu spielen, dem die Damen reihenweise zu Füßen liegen.

Titus Hoffmann hat sich zudem einiges einfallen lassen, um die Märchenfiguren zu entstauben: So war „Schneewittchen gefangen mit abnormen Fabelwesen“ und Dornröschen ist sich gar nicht mehr so sicher, ob sie wirklich ihren Traumprinzen gefunden hat. Die Vermischung von Märchenzitaten mit zeitgenössischer Sprache ist pointiert und funktioniert tadellos. Am Ende machen die drei Prinzessinnen ihrer Enttäuschung Luft und der ach so sehr von sich eingenommene Prinz verwandelt sich in einen Frosch.

Dieses Mini-Musical ist in sich komplett, versprüht jede Menge guter Laune und es ist ein Paradebeispiel dafür, wie man in sehr kurzer Zeit perfekte Unterhaltung kreieren kann.

Nach der Pause kamen die Zuschauer in den Genuss eines echten Musiktheaterstücks. „Der Faden“ von Nina Schneider (Buch) und Adrian Werum (Musik) erzählt die Geschichte von Simone (Wietske van Tongeren) und Tanja (Jennifer Siemann), die zufällig in den Besitz einer scheinbar verfluchten Marionette kommen. Auf der Suche nach Geisterjägern stoßen die beiden auf die Einbrecher Thomas (Mathias Edenborn) und Rene (Enrico de Pieri), die versuchen aus der schrägen Situation irgendwie noch Profit zu schlagen. Im Vordergrund steht hier das Schauspiel und die Regie von Christopher Drewitz. Die Musik (keine drei Songs) bleibt eher im Hintergrund. Das erklärt auch, warum hier die vierköpfige Band nicht mit auf der Bühne steht.

Vielleicht liegt es an den vielen Dialogen, vielleicht auch an dem Zuviel an guten Ideen, dass das Stück nicht gänzlich überzeugen kann. Die verfluchte Marionette gerät fast in den Hintergrund, wenn die Mädels mit den Jungs flirten oder sich darüber austauschen, dass heutzutage jeder bei Facebook oder Twitter etwas posted.

Dafür zeigen die vier Darstellerinnen und Darsteller großes komödiantisches Potential und sorgen auch für den ein oder anderen Lacher. Zudem wurde hier das „Textproblem“ sehr gut gelöst. Die Darsteller lesen ihre Texte von der Wohnzimmertischplatte oder der Laptop-Requisite ab. So fällt es kaum auf, wenn man an der ein oder anderen Stelle nicht ganz sicher ist.

Zum Abschluss hoben Heiko Wohlgemuth (Buch) und Johannes Glück (Musik) mit dem Publikum an Bord der Anchovi Arlines ab: „Käse oder Wurst“ beschreibt eine Szene im Flugzeug, in dem die Stewardess (Charlotte Heinke) über ihr eintöniges Leben lamentiert, einer der Fluggäste (Lucius Wolter) sich Sorgen um die in seinem Rektum versteckten Drogen macht und zwei weitere Fluggäste (David Arnsperger und André Haedicke) erleben die große Liebe auf den ersten Blick.

Von Heinke und Haedicke ist man ein gewisses Comedytalent gewohnt, aber auch Arnsperger und Wolter zeigen ihre extrem lustige Seite. Während der obligatorischen Turbulenzen entdecken die Fluggäste Arnsperger und Haedicke im jeweils anderen ihren „Liebesflugbegleiter“, während Heinke und Wolter im Hintergrund in bauchmuskelstrapazierender Slowmotion dem wild schlingernden Getränkewagen Einhalt zu gebieten versuchen. Denny Berry (Regie) gelingt das Spiel auf zwei Ebenen ganz ausgezeichnet. Denn schon wenig später stehen Heinke und Wolter mit einem urkomischen „Strand von Acapulco“-Gebet im Vordergrund, während Arnsperger und Haedicke sich tänzerisch immer näher kommen. Ein weiteres schönes Zitat in diesem Zusammenhang: „Von Dir da krieg ich nie genug, mein ungeplanter Höhenflug!“

Auch musikalisch fühlt sich das Publikum bei Glück gut aufgehoben. Bei so viel gesanglicher und schauspielerischer Brillanz kommt der Spaß auch auf der Bühne nicht zu kurz: Den Darstellern ist die Freude an diesem Projekt anzusehen – auch und weil sie das Finale ihres Mini-Musicals nicht wie geplant umsetzen können, sondern stattdessen in Gelächter ausbrechen.

24-Stunden Musicals zeigt einmal mehr, dass es auch in Deutschland sehr kreative, begeisterungsfähige Musicalautoren, -komponisten, -regisseure und -darsteller gibt. Die vier präsentierten Stücke zeigen eine große Bandbreite mit ganz unterschiedlichen inhaltlichen und kreativen Schwerpunkten. Da war ganz sicher für jeden die richtige Unterhaltung dabei. Man muss also nicht immer über den großen Teich oder den Ärmelkanal schielen, wenn es um echtes Potential geht. Das hat dieser 3. November eindrucksvoll gezeigt. Es bleibt zu hoffen, dass diese und ähnliche Konzepte einen festen Platz in der deutschen Musicallandschaft finden.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Alfred-Rust-Festsaal, Ahrensburg
Besuchte Vorstellung: 3. November 2014
Fotos: Musical Creations Entertainment