home 2015 Sehr unterhaltsame Menage à Trois am Originalschauplatz

Sehr unterhaltsame Menage à Trois am Originalschauplatz

Johann Wolfgang Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ gehört zum Standardrepertoire jedes Schülers. Doch es empfiehlt es sich vor Besuch eines Musicals, das auf diesem Roman fußt, das eigene Wissen hierzu aufzufrischen. Dank Internet fühlt sich der Zuschauer gut vorbereitet und kann sich entspannt auf „Lotte“ einlassen, das im Rahmen der Wetzlarer Festspiele 2015 im geschichtsträchtigen Lottehof unter freiem Himmel aufgeführt wird. Goethe hat zwar nur fünf Monate in der beschaulichen hessischen Kleinstadt zugebracht, doch den Stadtvätern gelingt es vortrefflich, diese Stippvisite zu ihrem Vorteil auszunutzen: An jeder Ecke findet man Bezüge zu Goethe und seiner Lotte (Charlotte Buff), mit der ihn eine platonische Romanze verband.

Kevin Schröder (Buch und Liedtexte), Marian Lux (Musik) und Christoph Drewitz (Konzeption, Regie) hatten die Idee, Werthers tragische Geschichte als Musical am Ort ihres historischen Geschehens aufzuführen. Der Lottehof ermöglicht viele Spielebenen und Drewitz nutzt diese Vielfalt voll aus. In knapp zwei Stunden zeigen sechs Darsteller die durchaus komplexe Handlung. Natürlich wurden einige Passagen für das Musical gekürzt oder angepasst, doch trotz literarischer Vorbereitung seitens der Zuschauer gilt es in kurzer Zeit viel Stoff zu bewältigen. Besonders schwer fällt dies bei denjenigen Szenenwechseln, in denen Lottes kleiner Bruder zu ihrem Vater, ihre beiden kleinen Schwestern zu ihren besten Freundinnen, oder alle drei zusammen zu Bewohnern Wetzlars werden.

Neben diesen drei „variabel eingesetzten“ Ensemble-Mitgliedern (Ekaterini Tsapanidou, Karen Helbing, Tobias Weis) stehen noch Lotte (Anne Hoth), ihr Verlobter Albert (David Wehle) und Werther (Oliver Arno) auf der Bühne. Im Mittelpunkt des Musicals steht natürlich die Titelheldin. Die bekannte Geschichte wird aus ihrer Sicht erzählt. Es geht um ihre Gefühle und Entscheidungen. Anne Hoth spielt Lotte mit viel Einfühlungsvermögen und bringt die emotionale Achterbahnfahrt sehr glaubhaft zum Ausdruck. Den gehörnten Verlobten und späteren Ehemann Albert gibt David Wehle eher rational. Nur selten verliert er die Beherrschung und gibt sich seinen Gefühlen hin. Werther hingegen lebt in den Tag hinein, hat den Kopf in den Wolken und wirkt phasenweise sehr weltfremd. Oliver Arno gelingt die Gratwanderung zwischen Liebe und Wahnsinn überzeugend.

Die Protagonisten können das Publikum auch mit ihrem Gesang für sich gewinnen – allen voran Anne Hoth: Sie legt mal Entschlossenheit, mal viel Verletzlichkeit in ihre Stimme. Man glaubt ihr die Zerrissenheit genauso wie ihren unbedingten Willen zu Albert zu stehen. Auch Oliver Arnos gleichsam sanfter wie bestimmender Tenor verfehlt seine Wirkung nicht. Gerade in ihren Duetten laufen Hoth und Arno zur Höchstform auf.

Musikalisch lässt sich kein roter Faden erkennen. Poppige Musical-Sounds wechseln sich ab mit gefühlvollen Balladen. Tempiwechsel innerhalb der Songs unterstreichen die verwirrende Gefühlswelt, in der Lotte, Werther und auch Albert gefangen sind (zum Beispiel „Mehr“). Nicht, dass die Kompositionen von Lux nicht gefällig wären, im Gegenteil, teilweise laden sie direkt zum Träumen oder Mitwippen ein, doch vielleicht spielt auch die musikalische Unausgewogenheit eine Rolle dabei, dass sich das Publikum in der Handlung verliert.

Bei den Dialogen und Liedtexten hat Kevin Schröder darauf geachtet, dass sie zum Zeitgeschehen des späten 18. Jahrhunderts passen. Ob allerdings Begriffe wie „Monsterjagd“, „Flirt“ oder „herumtoben“ vor 250 Jahren schon genutzt wurden? Zudem gibt es deutliche Brüche mit Goethes Original: Dass Lotte diejenige ist, die Werther zuerst küsst – und das keineswegs schüchtern – ist neu. Auch dass sie es ist, die Werther von seinem Leid erlöst und ihn (nach einem dramatischen Duett) mit Alberts Pistole erschießt, entstammt wohl eher der Phantasie des Kreativteams.

Dass jedoch Albert und Werther sich ebenfalls anfreunden, stimmt. Ihr Duett „Ein Tier“ über Lotte ist energiegeladen und sehr komisch. Diese Männerfreundschaft besteht aber nicht lang. Denn die Menage à Trois, welche die drei Protagonisten einen Sommer lang durchleben, führt zwangsläufig in die Katastrophe. Und so wird Werther ausgeschlossen, verlässt Wetzlar und Lotte heiratet Albert. Während der Trauzeremonie beginnt Lotte plötzlich von Werther zu phantasieren, doch zum Glück kann Albert sie in die Wirklichkeit zurückholen.  In der Folge wird es etwas wirr: Albert geht mit Lotte auf den Markt, dort wird Werther von Gauklern böse verunglimpft. Albert verschwindet, dafür taucht das Dienstmädchen Gerda auf, das auch nach ihrer Entlassung immer noch arg in Lotte verliebt ist. Lotte wird alles zu viel und sie wird ohnmächtig.

Lotte kämpft darum, Werther wiederzusehen. Sie glaubt, dass sie nur so Klarheit über ihre Gefühle bekommen wird. Doch sie wird enttäuscht: Werther, dem die Sticheleien seines Umfelds sehr zusetzen, wird immer verrückter und ihre Gefühle füreinander immer stärker. Als sie Albert schließlich fragt „Hätten wir nicht auch zu dritt glücklich werden können?“ versucht dieser, ihr den weiteren Kontakt zu Werther zu verbieten.

Am Ende beantwortet Albert die Fragen des Arztes, dem der ungewöhnliche Einschusswinkel auffällt. Doch man lässt es auf sich beruhen. Lotte und Albert finden sich wieder – auch wenn Werther weiterhin einen Platz in Lottes Herz hat. Dass das Finale („Wenn der Winter naht“) wieder von allen drei gemeinsam bestritten wird, ist verwirrend.

Man ist hin- und hergerissen: Die Darsteller und Musiker sind hervorragend und spielen überzeugend. Das sparsame Bühnenbild funktioniert ausgezeichnet und die Kostüme fügen sich gut ins Gesamtbild ein. Die Handlung ist abwechslungsreich und durchaus ansprechend umgesetzt. Doch es bleibt ein Gefühl der Überfrachtung. Hätte man die Handlung noch weiter einkürzen oder die Songs stimmiger zueinander arrangieren sollen? Wären mehr Darsteller hilfreich gewesen? Vielleicht ist es ein bisschen von allem. Doch das grundlegende Konzept, eine Handlung dort aufzuführen, wo sie passiert ist, geht auf und das Publikum wird sehr gut unterhalten.

Michaela Flint
erschienen in musicals – Das Musicalmagazin

Theater: Lottehof, Wetzlar
Besuchte Vorstellung: 17. Juli 2015
Darsteller: Anne Hoth, David Wehle, Oliver Arno, Ekaterini Tsapanidou, Karen Helbing, Tobias Weis
Musik / Regie: Marian Lux / Christoph Drewitz
Fotos: Franziska Hain